Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
Fenster.
»Rio hat Wache.« Es war Singer.
»Warum ist sie überhaupt wach?«, murmelte Chris.
Rosa winkte ab, ging los, um die Tür zu öffnen, und schloss unterwegs den Bademantel. »Was ist los, Singer?«
Singer warf kurz einen Blick auf Chris, dem es nur knapp gelungen war, sich zu bedecken, aber ihre Miene war geschäftsmäßig. »Er sagt … Na ja, er sagt, wir bekommen Besuch; es sieht nach einer ganzen Familie aus.«
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»Mmm. Du lenkst mich ab.« Rosa versuchte sich anzuziehen, aber Chris wollte sie offenbar nicht gehen lassen. Er küsste sie in den Nacken, als sie ihren Zopf in Ordnung brachte.
»Das ist meine Absicht. Schick doch Ex hin, damit er sich darum kümmert.« Aber sie spürte sein Lächeln auf der Haut, weil er selbst wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass es so kommen würde.
Wie seltsam. Es war das erste Mal, dass sie ein Privatleben hatte, das unterbrochen werden konnte, und im Augenblick hätte sie es tatsächlich lieber jemand anders überlassen, sich um das Problem zu kümmern. Sie wollte zurück ins Bett, den Kopf auf Chris’ Brust legen und seinem Herzschlag lauschen. So ein Impuls hatte sich zuvor noch nie in ihr eingenistet. Aber in dieser Stadt hatte sie auch andere Aufgaben.
Sie wirbelte in Chris’ Armen herum und tröstete ihn mit einem langen Kuss. Am Ende ließ er sie los, und sie kleidete sich rasch an. Wenn das hier eine List war, um ihre Verteidigungsmaßnahmen auf die Probe zu stellen, dann brauchten die Staubpiraten wohl einmal wieder einen Warnschuss. Niemand legte sich ungestraft mit Valle an. Aber wenn es wirklich eine Familie in Not war, dann wollte sie da sein, um sie willkommen zu heißen.
Auf dem Weg zur Tür nahm Rosa ihr Gewehr an sich. Chris war ihr dicht auf den Fersen. Alle, die so früh schon wach waren, würden ihn aus ihrem Haus kommen sehen, aber das machte ihr nichts aus. Die Würfel waren gefallen. Sie hatte ihren Anspruch auf ihn öffentlich gemacht, und er gehörte ihr. Sie hatten ihn alle zu ihrer casita gehen sehen. Sie musste aufhören, die Intimität zwischen ihnen als seltsam oder verboten zu betrachten. La jefa hatte einen Mann.
Sie lief zum Eingangstor und fand dort die Flüchtlinge vor, die bei Rio, der Wachdienst hatte, warteten. Wie Singer gemeldet hatte, war es eine Familie: Ein Elternpaar – eine Seltenheit in dieser Welt – und zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, die Rosa auf etwa zehn und zwölf Jahre schätzte. Sie wirkten alle erschöpft. Sie waren staubbedeckt, und ihre Füße bluteten an den Stellen, an denen ihre Schuhe durchgescheuert waren. Sie trugen Rucksäcke, die mit ihren Habseligkeiten vollgestopft waren, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie schon lange unterwegs waren.
»Wer seid ihr?«, fragte sie.
»Ich bin Jacob.« Der Mann nickte zu seiner Frau und seinen Kindern hinüber. »Colleen, Joseph und Connie.«
»Woher kommt ihr?«
»Aus Kalifornien. Oder aus dem, was einmal Kalifornien war.«
»Das ist weit weg.« Sie musterte sie und suchte nach Anzeichen von Verwilderung.
Jacob trat unter der Last ihres Blicks von einem Fuß auf den anderen. »Bitte. Wir sind seit Wochen auf Wanderschaft. Können wir etwas zu essen und Wasser bekommen? Wenigstens für die Kinder?«
» Sí, claro. Hier entlang, por favor .«
Sobald sie in der taberna waren, würde sie ihnen die Regeln erklären, aber sie würde ihnen unterdessen eine Mahlzeit und etwas zu trinken vorsetzen. Wenn sie gegessen hatten, war immer noch Zeit genug, den Test durchzuführen. Den Chris für wertlos hält. Mit einiger Mühe unterdrückte sie diese innere Stimme und ging daran, schnell eine kalte Mahlzeit aufzutischen – Brot, Käse und Kaktusfeigen in Scheiben, wie der Imbiss, den sie mit Chris geteilt hatte. Die Flüchtlinge stürzten sich auf die Speisen.
Rosa ließ sie ein paar Minuten lang essen und sagte dann: »Ihr habt Glück, dass ihr uns gefunden habt. Ihr seid hier in Sicherheit … sofern ihr Menschen seid.«
Der Junge hob stirnrunzelnd den Kopf. »Was sollten wir denn sonst sein?«
»Gestaltwandler. Wir haben eine Vorsichtsmaßnahme eingerichtet«, fuhr Rosa fort. »Aber es heißt, dass sie nicht sehr wirksam ist. Mir ist gesagt worden, dass nur die Folterung eines Angehörigen genug wäre, eine instinktive Verwandlung auszulösen.«
Chris legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Was tust du?«
»Nur das, was du vorgeschlagen hast.«
Sie schüttelte seine Hand ab und beobachtete die Neuankömmlinge, erkannte ihre Furcht.
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