Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
fröhlichen, freundlichen Charakter, und das machte sie in jeder Hinsicht zu einer angenehmen Gesellschaft.
Rosa antwortete nicht, da sie davon ausging, dass Mica mit Ingrid sprach. Aber auch die anderen unterbrachen ihre Arbeit und musterten sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Einen Moment lang sah Rosa Chris Welsh vor ihrem inneren Auge. Ihre Bauchmuskeln spannten sich an. In der Regel verglich sie die Attraktivität verschiedener Männer nicht miteinander, noch nicht einmal zum Spaß, aber wenn sie es getan hätte, hätte Chris gewonnen.
»Es ist noch zu früh, ihn einzuschätzen, aber ein bisschen ärztliche Hilfe könnten wir gut gebrauchen.«
Abigail nickte. »Besonders, weil es bei Tilly doch bald so weit ist.«
»Das habe ich nicht gemeint.« Mica ging wieder an die Arbeit, aber ihre Augen funkelten vor Schalk. »Er sieht verdammt gut aus, sogar mit diesem Bart und einer Jahresration Straßenstaub. Findest du nicht auch?«
Irgendwie gelang es Rosa, ihren Gesichtsausdruck unverbindlich zu halten und so zu vermeiden, dass sie aufgezogen wurde. »Er sieht nicht schlecht aus, aber weit wichtiger ist doch, dass er stark genug wirkt, um zu kämpfen.«
»Denkst du denn nie an etwas anderes?« Aber dankenswerterweise ließ Mica das Thema von da an ruhen und wandte sich Ingrid zu. »Wie sieht es denn nun mit dir und Ex aus?«
Die große blonde Frau zuckte mit den Schultern. Sie hatte sich die Haare so kurz geschnitten, dass sie nur eine Fingerspitze weit von ihrer Kopfhaut abstanden. Die wilden Igelstacheln passten zu ihr. Sie hatte eher einen Charakterkopf als ein schönes Gesicht, und ihre Arme waren sehnig und muskulös. »Er gefällt mir.«
»Aber du bist nicht darauf aus, mit ihm eine Familie zu gründen«, vermutete Abigail.
Ingrid lachte. »Um Gottes willen, nein. Das könnte ich gar nicht, selbst wenn ich es wollte.«
Die anderen Frauen brachten ihr Mitgefühl zum Ausdruck, aber Rosa blieb stumm. Ihre Lebenserfahrung raunte ihr zu, dass es vielleicht gar nicht schlecht war, unfruchtbar zu sein, denn wenigstens saß man dann im schlimmsten Falle nicht mit dem Kind seines Vergewaltigers da. Natürlich hieß das auch, dass Ingrid nie ein in Liebe gezeugtes Kind im Arm halten würde, aber immerhin war sie auf der sicheren Seite.
Rosa ließ den gewohnten Tratsch an sich vorbeirauschen: wer mit wem schlief, wer das gern wollte und wer beim Abendessen mehr als seinen Anteil gegessen hatte. Abigail entschuldigte sich nach einer Weile, um genug Buchweizenmehl für das Abendbrot zu mahlen, und Mica kam mit, um ihr zu helfen. Da das Mahlen per Hand erfolgte und ein langsamer, zeitraubender Vorgang war, konnte man immer nur so viel herstellen, wie für eine einzelne Mahlzeit benötigt wurde, da ja die ganze Gemeinde auf einmal mit Brot versorgt werden musste. Rosa machte sich manchmal Sorgen, ob Abigail vielleicht schon zu alt war, so hart zu arbeiten, aber sie konnte backen und behauptete, dass sie sich gern nützlich machte. Wenigstens zeigte Mica eine gewisse Bereitschaft, von ihr zu lernen, also würde es immer noch Brot geben, wenn Abigail irgendwann nicht mehr da war.
Ingrid und Rosa beendeten ihre Gartenarbeit und säuberten dann ihre Schaufeln und sonstigen Werkzeuge. Ex konnte sie zwar reparieren und neue anfertigen, aber sie hatten dennoch gelernt, sorgsam mit ihrem Eigentum umzugehen. Manchmal bedeutete ein solides Werkzeug den Unterschied zwischen Leben und Tod.
»Nagt etwas an dir?«, fragte Rosa, während sie mit einem Lappen das Metall polierte.
Ingrid sah sie überrascht an, und ihre Gedanken kehr ten von dort zurück, wohin sie abgeschweift waren. »Nichts, was ich eindeutig benennen könnte, aber dieser neue Bandenführer, Peltz, gefällt mir nicht.«
»In welcher Hinsicht?«
»Ich habe das Gefühl, dass seine Angriffe eher Finten als ernsthafte Überfälle sind.«
»So, als ob er unsere Schwächen zu ermitteln versucht?«
»Genau.«
Von Ingrid nahm Rosa solche Äußerungen ernst. Die große, hagere Blondine trat militärisch auf und be herrschte Krav Maga, eine der wirkungsvollsten, ge fährlichsten Kampfsportarten. Als sie einmal betrunken gewesen war, hatte Ingrid gestanden, dass sie das Kämpfen beim Militär verschiedener Übergangsregierungen gelernt hatte – besonders im Laufe der Treibstoffkriege an der Ostküste unmittelbar nach dem Wandel. Statt nach pikanten Details zu fragen, hatte Rosa Ingrid nur gebeten, mit ihr zu trainieren, um den dreckigen Straßenkampfstil
Weitere Kostenlose Bücher