Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
seit Monaten keine Sorgen mehr machen müssen. Vielleicht hatte er genug im Tornister, um ein paar neue Kleidungsstücke eintauschen zu können. Und, verdammt, er brauchte ein neues Rasiermesser! Sein letztes war längst stumpf geworden, nachdem ein Wildschwein mit seinem Jagdmesser in der Flanke davongelaufen war. Seither stand er vor der Wahl, entweder das Rasiermesser für die Fleischzubereitung zu benutzen oder auf Häuten herumzukauen. Die Entscheidung war ihm leichtgefallen.
Nachdem er sich die Haare mit Wasser von einem Gemeinschaftswaschtisch angefeuchtet und gekämmt hatte, packte er seine Sachen zusammen. Wortlos nickte er Manuel zum Abschied zu und ging ins Erdgeschoss der Taverne hinunter. Diejenigen, die für die Mahlzeiten verantwortlich waren, arbeiteten schon hart, um das Frühstück für die ganze Stadt zuzubereiten. Chris’ Magen zog sich vor heftigem Hunger zusammen. Das Essen, das Rosa ihm vorgesetzt hatte, hatte ausgereicht, ihn daran zu erinnern, dass Abwechslung und Nährstoffe kostbar waren.
Durch die Tür der Taverne schritt er im morgendlichen Wüstensonnenschein zum Laden hinüber. Alle waren beschäftigt und beäugten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn, wenn er vorüberging. Das machte ihm nichts aus, da er seinerseits genauso beschäftigt damit war, sie zu beobachten.
Eine Gemeinschaft. Eine echte, blühende Gemeinschaft. Unglaublich.
Er betrat den Laden, in dem ein alter Mann mit einem jungen Bravo verhandelte.
»Es ist mir egal, was du glaubst, wie viel er wert ist«, sagte der Ladenbetreiber gerade. »Ich gebe dir keine Flasche Wodka für den Spiegel. Erstens hat er einen Riss, und zweitens kennst du die Regeln ganz genau, was die Alkoholrationen betrifft.«
»Ach, lass doch, Wicker! La jefa erwartet von jedem von uns, so hart wie sechs Männer zu arbeiten – und da sollen wir uns mit hausgebrauter Maische zufriedengeben?«
»Sie erwartet von uns, dass wir unseren Beitrag leisten, hombre – nicht mehr als das.« Wicker zeigte mit dem Stiel des Besens, den er in der Hand hielt, auf ihn. »Und du passt besser gut auf, wenn du nichts Schlimmeres abbekommen willst als Narben auf dem Rücken.«
Chris merkte auf, denn mit der Geschichte konnte er einen Namen in Verbindung bringen. Das musste Lem sein, der Mann, der Bricks Schwester bedrängt hatte. Lems Bestrafung mit zehn Peitschenhieben hatte sich schon bis zu Chris herumgesprochen. Seine Umgebung so bald wie möglich zu kennen war lebenswichtig – nicht nur die Anführer, sondern auch potenzielle Unruhestifter.
»Du machst mir keine Angst, alter Mann«, sagte Lem mit einem gehässigen Grinsen.
»Ich bin auch nicht derjenige, vor dem du Angst haben musst, und das weißt du sehr gut.«
Chris räusperte sich. Die beiden drehten sich zu ihm um, als er den Hauptraum des Ladens betrat.
Zwanzig Tage nördlich von hier hatten zwei grauhaarige Schwestern jenseits der fünfzig, die beide mit halbautomatischen Maschinengewehren bewaffnet gewesen waren, ihm erlaubt, seinen Vorrat an getrocknetem Kaninchenfleisch bei ihnen einzutauschen. Sie hatten ihre Munition und ihre sonstigen Schätze in einem ausge höhlten Baumstumpf aufbewahrt. Dieser Laden hier war weitaus weniger primitiv. So etwas hatte er nicht mehr gesehen, seit er das kleine Haus verlassen hatte, das Mason und Jenna sich gebaut hatten, aber sogar sie hatten nicht alles gehabt, was es hier gab: Lampenöl, Wodka, Stoffballen, Ersatzreifen, Schuhe und genug Saatgut, um ein ganzes Gewächshaus damit zu bestücken. Die Samen waren jeweils in getrennten, ordentlich beschrifteten Tupperwaredosen verstaut, die schon ohne Inhalt ein Vermögen an Waren und Dienstleistungen wert gewesen wären, von den möglichen Ernten, die in ihnen steckten, ganz zu schweigen.
Die Überschüsse hier – denn darum schien es sich ja zu handeln – waren atemberaubend.
»Morgen«, sagte Wicker mit einem Nicken. Er war groß und hager, hatte grau melierte Haare und trug Stie fel, Jeans, ein ausgeblichenes T-Shirt und einen Cowboystrohhut. Mit Mitte sechzig war er der Inbegriff eines hochgewachsenen, schlaksigen Texaners. »Du musst der reisende Arzt sein.«
Er nickte. »Rosa hat etwas von Tauschhandel gesagt.«
»Ja, aber sie will dabei sein, wenn du etwas ein tauschst«, zwinkerte Wicker. »Was ein Mann anzubieten hat, sagt viel über ihn aus. Komm morgen nach dem Mittagessen wieder her.«
»In Ordnung«, sagte Chris schulterzuckend. »Kannst du mir dann vielleicht sagen, wo ich die
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