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Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)

Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)

Titel: Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Connor
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sicheren Ort.« Rosa stürzte in den Abgrund ihrer Erinnerungen. »Wir waren dem Hungertod nahe, als wir unseren ersten Gestaltwandlern begegneten. Zunächst waren sie menschlich. Wir dachten, wir hätten eine Art Zuflucht gefunden. Als sie sich gegen uns wandten, versuchte ich zu kämpfen. Ich sagte José, dass er davonlaufen sollte … und das tat er. Sie jagten ihn und holten ihn ein. Rissen ihn in Stücke, während ich …«
    Ein langer, zittriger Atemzug entfuhr ihr.
    Genug. Er hat deinen Schmerz gesehen. Es ist nur recht und billig. Du hast ihn bedrängt, dir seine Narben zu zeigen, also hast du es nicht besser verdient.
    Sie wartete nicht ab, was er zur Antwort sagen würde. »Es ist spät. Die Beerdigung beginnt morgen sehr früh. Anstelle eines Priesters halte ich die Trauerrede.«
    Rosa hastete aus der Werkstatt auf ihr Haus zu und betete zu den stummen, gleichgültigen Göttern, dass er ihr nicht folgen würde. Sie konnte Chris Welsh jetzt nicht mehr ertragen. Sie fühlte sich ohnehin schon, als ob sie sterben würde, wenn sie nicht die Zeit hatte, ihre Schutzwälle zu verstärken. Sonst würde er ihr näher kommen, als es je einem anderen Mann gelungen war.
    Viele hatten ihren Körper gekannt, aber keiner hatte je ihre Seele berührt.
    »Wach auf.« José hielt eine Tasse mit schwachem Kaffee in der Hand. Sie konnten sich nicht viel davon leisten, also gingen sie sparsam damit um und brühten manchmal den Kaffeesatz noch einmal auf.
    Rosa wusste nicht, ob es überhaupt legal war, dass sie noch im Haus ihrer Großmutter lebten, die der Tod schon vor Monaten geholt hatte. Abuela hatte keine Papiere hinterlassen, aus denen hervorging, dass die casita ihnen gehörte. Nicht dass die in Auflösung befindlichen Behörden sich an Eigentumsgesetze aus der Zeit vor dem Wandel gehalten hätten. Wenn jemand etwas nur genug wollte, fand er einen Weg, es sich auch zu holen. Rosa hatte nur eines von Wert, um den Hungertod abzuwehren: Das, was Männer wollten, selbst wenn die Welt im Chaos versank. Also verscherbelte sie ihren Körper mit dem Mut der Verzweiflung, obwohl es tausend andere Mädchen wie sie in Juárez gab.
    Aber wann immer sie José ansah, der erst fünfzehn Jahre alt war und dessen Überleben von ihr abhing, überwand sie ihren Abscheu. Es war nur ein Job wie jeder andere. Doch es war besser, wenn José ihre Lügen glaubte, dass sie in der Fabrik arbeitete. Er war ein freundlicher Junge, aber ein bisschen einfältig – und deshalb schickte sie ihn nicht in die Welt hinaus, damit er sich Arbeit suchte. Sie machte sich Sorgen, dass er zu Schaden kommen oder jemand seine Unschuld ausnutzen würde.
    Sie nahm den Kaffee, trank ihn und aß ein paar kalte Maistortillas zum Frühstück. Mehr hatten sie nicht. Da sie keinen Beschützer hatte, musste sie manchmal vor Männern fliehen, die sie nur nehmen, aber nicht dafür bezahlen wollten. Juárez war eine unbarmherzige Stadt, und sie träumte davon, ihr zu entkommen. Gerüchten zufolge erlagen selbst die Neuen Vereinigten Staaten langsam den Wirren des Wandels. Vielleicht würden die Grenzpatrouillen nachlassen. Vielleicht konnten sie doch noch einen sicheren Ort finden.
    Der Schauplatz wechselte, und Rosa regte sich unruhig, als ihr klar wurde, dass alles nicht echt war. Nicht die Wirklichkeit. Aber sie konnte sich selbst nicht wachrütteln. Mit wachsendem Entsetzen sah sie zu, wie vor ihrem inneren Auge ein Bild des ausgetrockneten Flussbetts aufstieg, in dem sie den Gestaltwandlern begegnet waren. Sie wollte nicht mehr sehen, wie sich das alles abgespielt hatte. Nie wieder.
    Sie schwitzte heftig, als sie sich zwang aufzuwachen. Wenn sie an ihren Bruder dachte, träumte sie danach immer von ihm – als würde seine Seele keine Ruhe finden.
    Da sie unmöglich wieder einschlafen konnte, stand sie auf, entzündete eine Kerze und holte sich eines ihrer Bücher. Sie las die Worte, die sie am Morgen um Manuels Seele willen würde sprechen müssen, und prägte sie sich ins Gedächtnis ein. Trauerfeiern zu leiten war der Teil ihrer Führungsrolle in der Stadt, der ihr am wenigsten behagte, aber sie würde sich der Verantwortung nie entziehen.
    Als der Morgen dämmerte, war sie bereit. Dieselbe Robe, die sie zur Gelöbniszeremonie getragen hatte, diente auch als Ornat für Beerdigungen. Sie legte sie noch einmal an. Soweit sie sich erinnerte, war es das erste Mal, dass sie sie zwei Tage in Folge trug. Sie hoffte, dass das kein Vorzeichen war.
    Mit großer Feierlichkeit

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