Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
über das Tal schweifen, drehte sich im Kreis, um jeden Horizont abzusuchen. Das Sonnenlicht war gerade erst über die fernen Hänge im Osten gekrochen. Lange Schatten leckten über den Wüstenboden und erinnerten ihn an die Tätowierung, die auf seinem Rücken erst noch verheilen musste. Aber damit kehrten seine Gedanken zu Rosa zurück.
Verdammt.
Die Übermüdung machte ihn verkrampft und träge, doch hinzu kam eine Anspannung, die er seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Als er durch die Ödnis gestreift war, war er ganz er selbst gewesen. Die einsamen Jahre, die er damit verbracht hatte, Pumas zu erforschen, waren gleichermaßen befreiend gewesen. Der ganze Kontinent war im Chaos versunken, aber er hatte mit der Stille und der Wildnis seinen Frieden gemacht. Sie war einsam. Sie war abstoßend und brutal. Aber alles, das ihn zu sehr verstört hatte, war am nächsten Morgen nur noch eine Erinnerung gewesen. Er war einfach weitergewandert. Kein Wunder, dass sogar die ruhige, fleißige Tabitha irgendwann die Scheidung gewollt hatte.
Aber das hier …
Es war viel schwerer zu bleiben.
Angesichts seiner bisherigen Erfolgsbilanz hätte ihn das nicht überraschen sollen. Wanderlust war sein Lebenszweck gewesen. Rosa gab ihm einen Grund, zu bleiben und etwas Besseres zu versuchen, aber was, wenn Rosa nicht für ihn infrage kam? Konnte er in Valle bleiben, wenn die Herrscherin der Stadt sich in seine Träume stahl, ihm in der Realität aber immer wieder den Rücken zuwandte?
Es machte ihm sehr viel aus, dass die Antwort »nein« lautete. Das Gelübde, das er während seiner Initiation abgelegt hatte, war eigentlich ein Treueschwur auf die gesamte Siedlung gewesen. Aber er wusste es besser, und wenn Rosa ehrlich zu sich war, dann wusste sie es auch. Er hatte jene Worte an sie gerichtet.
Da er nichts Besseres zu tun hatte, überprüfte Chris das Zielfernrohr seiner Waffe und seine Munition. Der Patronenstreifen war höchstens halb voll. Eines Tages würde selbst dieses simple Hilfsmittel zum Überleben verschwunden sein. Dann würden sie wieder auf Keulen und Steine zurückgreifen müssen.
Der Geruch brennenden Holzes kitzelte ihn in den Nasenlöchern. Er blickte nach Norden. Flammen und schwere Rauchfahnen stiegen vom Scheiterhaufen auf. Gott segne dich, Manuel.
Bald konnte er dieses Exil verlassen und an die Arbeit gehen. Die neuen Mädchen brauchten eine komplette medizinische Untersuchung, die beim Überfall verletzten Bravos benötigten seine Fürsorge, und er musste bei Tilly vorbeischauen. Dann am Abend würde er es sich gemütlich machen und das Buch lesen, das Rosa ihm geschenkt hatte. Gesammelte Erzählungen und Gedichte von Edgar Allan Poe. Am Morgen hatte er vorgehabt, sie nach dem Grund dafür zu fragen. Hatte sie einfach das dickste Buch aus dem Regal gezogen? Hatte sie überhaupt darüber nachgedacht?
Aber nein. Dazu war es nicht gekommen.
Das hieß nicht, dass er es nicht genießen würde, etwas zu lesen. Er konnte sich tatsächlich nicht daran erinnern, was er zuletzt gelesen hatte. Die Aussicht auf Lektüre füllte die Leere in seiner Brust ein wenig aus, wärmte sie, als hätte er noch genug Seelenbruchstücke, um weiter durchzuhalten.
Ein Lichtschimmer im Westen erregte seine Aufmerksamkeit. Sein Finger legte sich reflexartig an den Abzug. Er kniff die Augen zusammen und starrte dorthin. Das Funkeln war direkt zwischen zwei scharfen Bergspitzen aufgeblitzt, in einigen Kilometern Entfernung, dort, wo er nachts kampierte. Es wiederholte sich nicht. In seinem Hirn schrillten keine übernatürlichen Alarmglocken, aber er konnte sich auch nicht entspannen.
Metall vielleicht? Oder Licht, das von Glas reflektiert wurde?
Die Prozession kehrte mittlerweile in die Stadt zurück und löste sich nun auf, da der Scheiterhaufen ruhiger brannte.
»He, Doc!«, rief Ingrid. Sie schaute vom unteren Ende der Leiter zu ihm herauf. »Ich bin an der Reihe. Geh frühstücken.«
»Danke.«
Als er hinunterstieg, fällte er eine Entscheidung. Er würde das Gebiet zwischen den beiden Berggipfeln in Augenschein nehmen. Aber nicht jetzt. Er wollte die Stadt nicht unnötig in Aufregung versetzen, falls sein Ver dacht falsch war, und er wollte nicht, dass Rosa glaubte, seinem Bauchgefühl nicht vertrauen zu können. Nein, er beschloss, dass er sich die Sache heute Nacht ansehen würde, wenn er in die Höhlen zurückkehrte, um zu schlafen.
»Behalte den westlichen Horizont im Auge, zwischen den beiden Gipfeln da«,
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