Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
hatten sie Regeln für die Bestattung menschlicher Überreste aufgestellt, die der Tatsache Rechnung trugen, dass es neue Krankheiten gab, vor denen man sich schützen musste. Da nur eine sehr begrenzte medizinische Versorgung zur Verfügung stand, konnten sie es sich nicht leisten, durch mangelnde Hygiene Seuchen Vorschub zu leisten.
Alle außer Rio würden den Trauerflor wieder abnehmen, bevor sie zu Bett gingen. Als wichtigster Hinterbliebener hatte Rio das Recht, seinen einen ganzen Monat lang zu tragen. Danach würde die Stadt wieder nach vorn blicken. Hier in Valle versuchte man, die Toten nicht zu lange herumspuken zu lassen. Die Grenze zwischen Leben und Tod war gefährlich schmal, und niemand wollte ein Eindringen der einen Welt in die andere begünstigen.
Dass die Toten noch nicht auferstanden sind, heißt ja nicht, dass es nie geschehen wird. Früher hätte sie auch Gestaltwandler für ein monströses Phantasieprodukt gehalten, das von Filmemachern in die Welt gesetzt worden war. Aber mittlerweile wusste sie aus eigener Anschauung, dass es anders war.
Manuel war auf seinem Scheiterhaufen so pietätvoll wie nur irgend möglich aufgebahrt worden, umgeben von trockenem Laub, duftenden Kräutern, Saguaroholz und getrockneten Blütenblättern. Dafür hatte Viv gesorgt. Auf ihre Art versuchte sie immer, solche Anlässe erträglicher und würdevoller zu gestalten. Rosa war für die Anwesenheit der älteren Frau dankbar.
Brick stimmte mit dem Rest der Stadt eine Abschiedshymne an, eine tiefe, zu Herzen gehende Melodie. Rosa ließ die Gedanken schweifen, bis Rio das Feuer entzündete und der Rauch sich zum Himmel erhob und angeblich Manuels Seele zu seiner Wiedergeburt trug. Sie wusste nicht, ob sie daran glaubte; sie sagte es nur, weil es die anderen tröstete. Rituale waren wichtig. Selbsterkenntnis auch.
Das war’s dann also. Manuel ist nicht mehr da. Und das ist meine Schuld.
22
Chris stieg die verrostete Leiter zum Wachturm am Rande der Stadt hinauf. Von dem Ausguck hoch oben würde er das gesamte Tal überblicken können. Aber im Moment sah er nur rot. Sie hatte ihn verbannt.
Er zog sich nach oben, setzte sich hin und ließ die Beine über die Kante baumeln. Da er ein Maschinengewehr zwischen den Schulterblättern trug, spürte er die Reibung von Metall und Stoff auf dem Verband, der seine neue Tätowierung abdeckte. Fürs Leben gezeichnet. Und was hatte er davon? Nichts.
Was war schlimmer? Dass er Rosa offen von seinen Ex-Frauen erzählt hatte – und, was weit schmerzlicher gewesen war, davon, wie er Angela hatte sterben sehen? Dass Rosa den Mut gefunden hatte, ein paar dunkle Winkel ihrer Vergangenheit zu enthüllen? Oder dass sie ihn danach völlig ausgesperrt hatte?
Der Wind riss ihm den Fluch von den Lippen. Einen Schritt vorwärts, fünf Schritte zurück.
Unten am Nordrand der Stadt begann der Trauerzug seinen langsamen Weg dorthin, wo Manuels Leichnam auf einem Scheiterhaufen aufgebahrt war. Von seinem Aussichtspunkt konnte Chris nur den Toten erkennen, der in hellen Stoff gewickelt war. Er hatte Manuel nicht gut gekannt und trug den Trauerflor nur aus Pietät, nicht aus Trauer. Aber Rosa hatte ihn ausgeschlossen. Mit voller Absicht. Der Hochsitz war ein gefühltes Sibirien.
Für solch eine starke Frau verhielt sie sich verdammt feige.
Chris streckte sich und spürte die Belastungen der letzten beiden Wochen in den Muskeln. Er hatte wieder von Rosa geträumt – nur dass sie diesmal jünger gewesen war, blauäugig und abgehärtet zugleich. Tränen passten nicht zu ihrem Gesicht, aber das strahlende Lächeln eines jungen Mädchens auch nicht. Es war gewesen, als würde er einen körnigen, selbstgedrehten Film über ihr Leben im Vorher ansehen. Aber ganz gleich, wie realistisch dieser Traum auch gewesen sein mochte, ihm haftete nicht dieselbe Aura von Magie und Fremdartigkeit an wie denen, die Vorahnungen brachten.
Er lernte, das langsam zu unterscheiden.
Nach allem, was er seit dem Wandel erlebt hatte, und nach allem, was er in letzter Zeit am eigenen Leib erfahren hatte, hätte er es dieser neuen Welt durchaus zugetraut. Die Wissenschaft, auf die er sich einst verlassen hatte, die er erforscht und, zum Teufel, sogar geliebt hatte, spielte keine Rolle mehr. Er hatte auch darum trauern müssen. Es war nicht der herzzerreißende Schmerz, den man empfand, wenn man einen anderen Menschen verlor, sondern der stille Verlust eines Teils der eigenen Seele.
Er stand auf und ließ den Blick
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