Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
er je in ihren großen, dunklen Augen gesehen hatte. »Wo ist das Mädchen heute?«
»Bei meinen Freunden, Jenna und Mason. Ich … Ich musste gehen. Nachdem ich begraben hatte, was von ihrer Mutter übrig war, konnte ich einfach nicht bleiben.«
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Das erklärte alles.
Rosa wünschte, sie hätte nicht gefragt, oder er hätte nicht geantwortet. Es war leichter gewesen, ihn einen pendejo wie alle anderen zu nennen, bevor ihr aufgegangen war, dass er die Fähigkeit hatte, etwas für andere zu empfinden … und zu leiden. Sie stand stumm in der schattigen Werkstatt und versuchte, zu einem Schluss darüber zu gelangen, wie sie weiter vorgehen sollte. Wünschte er sich Vergebung oder Trost? Von ihr vielleicht beides nicht, aber sie fühlte sich dennoch bemüßigt, etwas zu sagen.
»Menschen sterben nun einmal«, sagte sie leise. »Manchmal kann man sie nicht retten.«
Aus der leichten Veränderung in seinem Gesichtsausdruck las sie ab, dass er diese Reaktion nicht gewollt hatte. Nichts, was sie ihm zu bieten hatte, konnte seinen Schmerz lindern. Mierda , sie verstand nichts von Männern. Nicht in dieser Hinsicht. Nicht unter vier Augen. Sie wusste nur, wie sie eine ganze Schar von ihnen bändigen oder ihnen sexuell zu Willen sein konnte, aber nichts darüber, wie man eine verwundete Seele heilte. So etwas verlangten die Bravos nicht von la jefa .
Aber Cristián war kein Bravo wie jeder andere, und sie vermutete, er wollte, dass sie das eingestand. Ihr Bruder war der einzige Mann, den sie je von ganzem Herzen geliebt hatte. Ihr Vater war ein brutaler hijo de puta gewesen, und nur ihre abuela hatte sie unzählige Male vor seinen Fäusten beschützt. Obwohl Rosas Großmutter mütterlicherseits eine kleine Frau gewesen war, konnte sie ihren Vater allein mit einem finsteren Blick aus dem Haus scheuchen.
Das war Rosas Einführung in die Macht gewesen, die Frauen über Männer ausüben konnten. Als sie größer geworden war, hatte sie dieses Machtgefühl verloren, aber jetzt hatte sie es zurückgewonnen. Sie hatte es der Wüste abgerungen, dem Wandel. Sie war sich nicht sicher, ob sie es aufgeben konnte – noch nicht einmal für einen Mann, mit dem sie intime Träume und eine unerklärliche Sehnsucht verbanden.
Sein dunkler Blick nötigte sie – und das gefiel ihr nicht. Aber die Worte entschlüpften ihr dennoch, als er sie so anstierte und … irgendetwas verlangte.
»Ich konnte meinen Bruder nicht retten«, sagte sie. »José. Er war zwei Jahre jünger als ich, und ich habe meiner Großmutter versprochen, dass ich immer auf ihn aufpassen würde. Aber als der Wandel Mexico erfasst hat und sie gestorben ist, war alles so schwer.«
Sie hatte noch nie jemandem davon erzählt. Valle de Bravo bot jedem einen Neuanfang, fern aller vergangenen Kümmernisse, doch sie würde die Narben bis ins Grab tragen. Das schien Chris instinktiv zu spüren. Wenn er sich gerührt, etwas gesagt oder auch nur versucht hätte, sie freundschaftlich zu berühren, hätte sie nicht weitersprechen können. Doch er stand einfach still in den Schatten und lauschte dem, was ihr das Herz gebrochen hatte. Das machte es ihr möglich fortzufahren. Es kam ihr richtig vor, ihm ihre tiefste Wunde zu offenbaren. Es hatte anderes Leid gegeben, entsetzliche Demütigungen, aber nichts hatte ihre Seele so tief verletzt wie dieses Versagen.
Sie waren in Juárez gewesen und hatten nach einem »Kojoten« gesucht, einem Schlepper, der sie über die Grenze in die Neuen Vereinigten Staaten bringen konnte. Seit diese sich vom Rest des Landes abgespalten hatten, verhinderten schwerbewaffnete Grenzpatrouillen jegliche Einreise. Alle hatten entsetzliche Angst vor den Höllenhunden, Gestaltwandlern und dem unaufhaltsamen Wandel. Rosa hatte Geld für diese Schlepper zusammengespart, indem sie ihren Körper verkauft hatte – nicht, dass José je die Wahrheit erfahren hätte. Es war ein Kampf ums Überleben gewesen. Rosa war entschlossen gewesen, ihnen beiden ein besseres Leben zu ermöglichen.
Diesen Teil ihrer Geschichte würde sie nicht erzählen. Aber der Wandel … Chris würde verstehen, mit welchen Widrigkeiten und Verlusten es einhergegangen war, ihn zu überleben.
»Als die Monster kamen, sagten alle, es wäre el fin del mundo , dass wir Heuschreckenplagen erleben und es Blut vom Himmel regnen würde. Kein Schlepper war willens, das Risiko einzugehen, vom Militär der Neuen USA ohne Vorwarnung erschossen zu werden. Also suchten wir nach Hilfe. Nach einem
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