Die letzten Dinge - Roman
viel Brei brauch ich denn?, rief Lotta über den Flur, aber niemand antwortete. Hallo? Wie viel Brei?
Wenn sich die Gebisse nicht einfanden, gab es denselben Zirkus wie gestern, Brei für jedermann. Wut und Beschwerden. Heulen, aber kein Zähneklappern. Mist, verdammter. Lotta fluchte und fluchte.
Sie steckte den Kopf in das Zimmer von Frau Sturm. Kein Pfleger da, Frau Sturm ohne Zähne. Steckte den Kopf in das Zimmer von Frau Wilhelm, kein Pfleger da, Frau Wilhelm ohne Zähne. Steckte den Kopf in das Zimmer vom Sotzbacher Mädchen, kein Pfleger da, Sotzbacher Mädchen mit Zähnen. Lotta lief davon und blieb mit einem Mal ruckartig stehen.
Das Sotzbacher Mädchen hatte Zähne? Das konnte gar nicht sein! Sie durfte wie alle anderen keine haben! Aber das Sotzbacher Mädchen hatte sie vom Bett aus angelächelt mit mindestens elf sichtbaren, elfenbeinfarbenen schimmernden Zähnen.
Mooment mal, sagte Lotta und dann suchte sie so lange nach Kevin, bis sie ihn im Schmutzraum gefunden hatte.
Du ahnst es nicht! Du ahnst es nicht!
Was denn? Ist Ivy da?
Nee, aber ich hab was gefunden!
Wenig später stellten Lotta und Kevin das Zimmer vom Sotzbacher Mädchen auf den Kopf, suchten im Bett, suchten im Nachtschrank, suchten im Badschrank, bis Kevins Blick auf die weiße, ausgebeulte Handtasche fiel, die das Sotzbacher Mädchen sorgfältig unter den Arm geklemmt hatte.
Darf ich mal?
Was fällt dir ein??
Und als Kevin den Verschluss auseinander klappte, da schimmerten ihnen endlich rosarot und grinsend dreizehn verschiedene Gebisse entgegen. Es waren vier Unterkiefer, sieben Oberkiefer und zwei Brücken, insgesamt also elf Gaumen und ordentlich metallschimmernde Bogen. Das Sotzbacher Mädchen hatte sie alle, alle eingesammelt und vorgesorgt für alle Zeiten.
Ich weiß nicht, wo die herkommen, sagte es. Die hat mir irgendjemand da reingetan.
Und in den Mund?, fragte Kevin. Hat die auch irgendjemand in Ihren Mund gesteckt?
Das sind meine eigenen, behauptete das Sotzbacher Mädchen. Sie passten sehr gut und waren vermutlich von Herrn Bellheim.
Und wie wollen wir jetzt herausfinden, wem welches Gebiss gehört?, fragte Lotta.
Da hilft nur eines, sagte Kevin und stierte vor sich hin:
Wir müssen alle, alle anprobieren.
Als hätte Ivy Dreck gefressen , so kam er sich vor. Sein Mund schmeckte nach alten Kartoffelschalen, nach Salpeter, nach Salmiakgeist.
Wo war er nur so abgestürzt?
Er versuchte, sich zu bewegen, über ihm lag ein Arm mit Haaren und einem tätowierten Stacheldrahtarmband. Der Türsteher! Er war bei dem Türsteher hängengeblieben. Er versuchte, den Arm wegzuschieben, und suchte eine Uhr, da war keine, er beugte sich vor, verdrehte Jeffs Arm: Acht Uhr.
Scheiße, brüllte Ivy. Schon wieder! Das hab’ ich nicht gewollt, Rosalinde, das hab ich nicht gewollt!!
Ivy wusste nicht, wo er war. In irgendeinem Hinterzimmer irgendeiner Schenke. Auf einem schweren Chaiselongue, überall roch es nach Qualm, nach Schnaps und nach Frittenfett.
Du meine Fresse, wo bin ich denn hier?!
Ivy wälzte sich unter dem schweren Leib von Jeff weg und Jeff grunzte nur und Ivy erinnerte sich mühsam, wie er hierher gekommen war. Nach einem Absacker im Eckenseppel hatte der Wirt ihnen noch einen ausgegeben. Der Wirt war ein Freund von Jeff. Sie sollten ihm helfen, die Vollproleten auszuhalten, bis er Feierabend hatte. Das hatten sie versprochen und waren in der Küche gelandet und dann gab ein Wort das andere … Der Wirt lag inzwischen irgendwo im ersten Stock in seinem Zimmer und sie beide in der Kneipenküche auf dem Sofa.
Ivy fühlte sich scheußlich. Er musste dringend auf die Arbeit, dringend, was war er nur für ein Ekel, für ein Widerling, immer diese Schwoofnächte, er schwoofte immerzu, er hatte das Schwoofen erfunden, er war ein verkommener Widerling, ein Säufer, ein Hurenbock, ein stinkender, pappiger Lustknabe.
Er blickte auf Jeff. Jeff stank auch.
Weg, dachte Ivy. Nur weg. Ich will es nie wieder tun, Rosalinde, ich will es nie wieder tun!
Sein Schädel brummte und er war nicht rasiert und doch musste er so, wie er war, zur Arbeit fahren, denn seine Wohnung lag in einem anderen Stadtteil und dort zu duschen würde zu lange dauern.
Jeff wälzte sich unter dem versifften Schlafsack und Ivy fasste sich an seinen Mund, der Mund brannte, nicht nur der Mund.
Oh Gott, sagte sich Ivy. Oh Gott, ich muss.
Er stürzte sich in seine Klamotten und stieg durch ein Fenster der Kneipe hinaus auf die Pflasterstraße.
Oh
Weitere Kostenlose Bücher