Die letzten Dinge - Roman
schlanken Hände bekamen die Tür einfach nicht auf, sie hatte sich verklemmt. Da war doch ein Bediensteter irgendwo, ein Page oder so, sie hatte ihn vorhin gesehen. Frau Wissmar hob den Kopf, die Ponyfransen fielen ihr in das Gesicht, gekrümmt robbte sie sich in ihrem Rollstuhl zur Zimmertür, öffnete sie und rollte hinaus.
Bitte!, rief sie. – Bitte, kann mir jemand helfen?
Das Sotzbacher Mädchen kam mit dem Stock auf sie zugewackelt.
Was ist?
Hören Sie bitte, … Frau Wissmar überlegte. Sie überlegte noch mal. Sie hatte ein Bedürfnis …
Was wolle Sie denn?
Ich … Moment, ich muss überlegen.
Wissen Sie, ich bin das älteste Sotzbacher Mädchen und ich bin hier geboren, hier in dem Haus. Und ich habe bei der Frankfurter Rundschau gearbeitet und ich habe noch mal Englisch gelernt.
Oh, freut mich. Mein Name ist Wissmar, ich bin bei der Degussa beschäftigt, eine zeitraubende Beschäftigung, aber es ist gut, wenn man eine Arbeit hat in diesen Zeiten.
Oh ja, strahlte das Sotzbacher Mädchen. – Mich wollten sie gar nicht fortlassen, sie haben gesagt, ach, Magda, bleib doch noch ein wenig! Ich bin mit jedem gut ausgekommen. Wissen Sie, man muss jeden Menschen nehmen, so wie er ist, das habe ich immer gemacht. Und mich hat jeder gern. Jeder.
Frau Wissmar nickte verständnisvoll. Dann brach in ihr die Erkenntnis durch, die eben noch zurückgehaltene, die geheimnisvolle, die erleuchtende Erkenntnis:
Wissen Sie … ich werde jetzt ganz oben eingesetzt! Ganz oben!
Und sie war selbst erschrocken von der Bedeutung des Gesagten, aber sie wusste es auf einmal, auf einmal war es ihr sonnenklar, das geschah jetzt! Sie musste es jemandem sagen, sie konnte es nicht für sich behalten, diese unglaublich aufregende Neuigkeit.
Verzeihen Sie!, sagte sie zu dem Sotzbacher Mädchen, das sich leicht beleidigt am Stock festhielt und ihr hinterherschaute, als sie emsig in die Räder griff und ihren Rollstuhl nach vorne schob, den Gang entlang, ihre krummen Füße mit verrutschten Strümpfen ineinander gebogen auf den Fußstützen. Sie musste sehen, dass sie vorwärts kam. Da war der Junge.
Sie …
Ja, Frau Wissmar, wieder unterwegs?, sagte Kevin.
Frau Wissmar winkte ihn näher, noch näher, ganz nah an ihr Gesicht.
Wissen Sie … ich werde jetzt ganz oben eingesetzt, ganz oben!
Oh, nickte Kevin aufmerksam. – Eine Beförderung, Glückwunsch.
Frau Wissmar aber rollte schon weiter, schob und schob, packte jeden am Ärmel, der vorüberging, winkte Nadjeschda zu, rief und holte sich die Pfleger herbei:
Ich wollte es Ihnen nur sagen! Ich werde jetzt ganz oben eingesetzt! Ganz oben!
Und die Aufregung hatte von ihr Besitz ergriffen, sie blieb nur so lange stehen, wie Nadjeschda die Schere ergreifen konnte und ihr schnell den Pony schnitt.
So, Frau Wissmar, guckst du, bin ich Friseur, haben wir Geld gespart, so, bist du wieder schön, Frau Wissmar! Kannst du wieder gucken!
Frau Wissmar zwinkerte ein wenig, bis die abgeschnittenen Haare herunterfielen, und schaute Nadjeschda eindringlich an, als hätte diese nicht begriffen. Ihr Stimme senkte sich, wurde laut und flüsternd, sie flüsterte so laut sie konnte – Hören Sie!
Was, Frau Wissmar? Was los?
… Ich … ich werde jetzt ganz oben eingesetzt … GANZ OBEN. Und zwar … in Bälde!
Das war ein Taufgebet . Ein Taufgebet, sonst nichts. Wo hatte Pater Ludolfus nur die Exorcizo gelassen …? Das praktizierte ja kein Mensch mehr. Allerdings handelte es sich bei dem Taufgebet ja auch um ein Exorcizo, stand explizit drauf. Der Priester befiehlt dem Satan, vom Täufling abzulassen.
Blödsinn! Pater Ludolfus schlug wütend das Buch wieder zu. Alte, überkommene Vorstellungen, uralte Gebete, wie alt war das Buch eigentlich? Außerdem hatte Gianna, wenn er es recht verstanden hatte, ein Gespenst gesehen. Also eine erdgebundene Seele, eine Halluzination oder eine seltsame Erscheinung. Vielleicht sollte er sich einfach nur ein Bild machen. Einen Moment lang ärgerte er sich, dass er auf Giannas seltsame Bitten eingegangen war. Hatte er nicht genügend andere Aufgaben? Ein Empfang bei der Stadt stand an, eine Überprüfung der Ausgaben für die Obdachlosenspeisung, ein Gespräch mit dem Erzbischof wegen seiner Romreise … und die täglichen Gebete. Aber er musste sich auch ein Bild davon machen, wie es im Heim zuging. Die holten keine Priester mehr, die Zahl der letzten Ölungen nahm von Jahr zu Jahr ab. Auch wenn alle möglichen Glaubensrichtungen sich zum Sterben
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