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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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aber die Nachtschwester hatte schon das Kalenderblatt abgerissen:
    »Manchmal denkt man, es ist stark festzuhalten. Doch es ist das LOSLASSEN, das wahre Stärke zeigt.«
    Es roch gut auf der Station. Die Türklinken wirkten frischgeputzt. Der glänzende Schein vom Linoleum, glatt in Vierecke aufgeteilt, erhellte die ganze Station. Neue Kränze und bunte Blätter schmückten die Wände. Alles schien frisch gebohnert, stäubchenfrei, voll guten Mutes, voll neuer Kraft, voll Helligkeit. Wie eine Puppenstube lag die Station da. Vielleicht waren in der Nacht Engel durch die Räume gegangen und hatten mit den Schwingen alles davongefegt, was an Ausdünstungen von Leid und Schmutz und Ärger übrig geblieben war.
    Als hätte sich eine allgemeine Amnesie über die Menschen gelegt, konnte sich an diesem Morgen kein Mensch mehr daran erinnern, warum es ihm gestern schlecht gegangen war. Die Pfleger kamen alle auf die Arbeit: Rosalinde, Kevin, Ivy und Lotta. Niemand klingelte. Eine unerklärliche Fröhlichkeit lag über der Station. Selbst Rosalinde fühlte sich ausgeruht und frisch, endlich einmal, und mit neuer Kraft erfüllt.
    In Ruhe machten sie die Übergabe, verteilten ihre Aufgaben, tranken Kaffee, kritzelten mit den Stiften auf Notizzetteln und aßen Merci, das Geschenk vom Sohn der Frau Wilhelm. Schön, noch eine halbe Stunde zusammenzusitzen.
    Alle fühlten sich wohl, selbst Lotta hatte vergessen, dass Ivy sie geküsst hatte für nichts und wieder nichts, und lümmelte sich auf dem Sofa eines Menschen, der längst nicht mehr lebte und dessen Namen niemand mehr erinnerte.
    Gut, sagte Rosalinde, es geht los! Kevin – du machst Bellheim, Wilhelm, Wickert, Schlecker, Strunz, Wissmar und die Frau Sturm. Und Ivy: Frau Norken, Frau Eulert, das Sotzbacher Mädchen …
    Die Pflegewagen waren frisch aufgefüllt, die Handtücher und Bettlaken waren gestapelt bis obenhin, die Pflegeölflaschen standen nebeneinander, der Zellstoff lag ordentlich in der Plastikkiste, Handschuhe, Waschlappen, Netzhosen, alles lag schön nebeneinander, die Pfleger schnappten sich aufgekratzt die Wagen und fuhren davon, der eine nach hinten, der andere nach vorne und überall begannen grüne Lämpchen über den Zimmern aufzuleuchten. Warum waren manche Tage so gut? Und manche so schwer? Niemand wusste das. Kein Mensch.

Da stimmte doch was nicht   mit seinem Oberarm. Ivy starrte entgeistert auf die kakaobuttergeölte Haut mit den sonst prall gefüllten Muskeln und roch daran. Er hatte es bemerkt, als er Frau Norken aus dem Bett gehoben hatte und sie vor lauter Kraft beinahe durch das Zimmer geworfen hätte. Jetzt lag sie immer noch in ihrem dünnen Nachthemd an seiner Brust – aber Ivy sah nur auf seinen eigenen Arm genau auf die Stelle zwischen Schultermuskelende und Bizepsanfang, wo jeder anständige Schwule ein tätowiertes, geschnörkeltes Band hatte oder wenigstens einen Stacheldrahtreifen, er aber gar nichts. Frau Norken sah ihn an oder auch nicht, wie eine alte Indianerin, die sich zum Sterben hingelegt hatte, nahm sie von ihrer Umgebung nichts mehr wahr, ob sie nun geschleppt oder gefahren wurde, sie lag das, weise und allwissend und manchmal lachte sie noch, aus einer anderen Welt, und niemand wusste, warum.
    Tja, Frau Norken, sagte Ivy. – Ich glaube, ich muss mit Ihnen ein paar Kraftübungen machen.
    Seine Muskulatur im Oberarm hatte beträchtlich nachgelassen. Wann war er das letzte Mal im Kraftraum gewesen? Er konnte sich gar nicht erinnern, es war vor dem Schlamassel mit Fredderik gewesen. Außerdem war er nach der Arbeit immer so ausgepowert, dass er nicht mehr gut trainieren gehen konnte. Frau Norken war das alles egal, Männer und Muskeln, … nur ein lang gezogenes Ooh entwich ihr, als Ivy mit ihr auf den Armen zweimal in die Knie ging. Frau Norken war kein entscheidendes Gewicht, sie hatte eben noch 35 Kilo, wie eine Gliederpuppe lag sie da.
    Mist, sagte er. – Da sind ja schon beinahe Hautfalten, so erbärmlich ist das. Die Umstände, die fatalen Umstände der letzten Tage und Nächte.
    Lotta fiel ihm ein.
    Ivy setzte Frau Norken in den weichen, bequemen Liegerollstuhl und deckte sie mit der Wolldecke zu, griff nach der Waschschüssel und schüttete sie im Bad aus. Er hatte mit Lotta ganz schön rumgeknutscht. War erschrocken über seine plötzlichen bisexuellen Gelüste. Ja wirklich, da waren echte männliche Regungen gewesen. Wäre beinahe passiert, dass er sich noch mal in die Nähe eines Uterus verirrt hätte. Wäre

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