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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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bedeckte, eine kräftige Schicht bildete, war doch ein beträchtlicher Teil davon völlig zerstampft worden; der morastige Boden darunter war nun aufgewühlt. An diesem Nachmittag war es außerdem für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm; neues Leben regte sich auf dem Feld, das ansonsten von entsetzlichstem Tod beherrscht wurde. Mückeneier hatten ein paar Finger tief im Morast gelegen; nun lagen sie offen in der warmen Sonne. Innerhalb einer einzigen Stunde wurden auf diese Weise Millionen und Abermillionen Eier ausgebrütet, und neue Schwärme von Mücken stiegen wie eine wirbelnde Wolkensäule tausend Schritt über der gesamten Fläche des Schlachtfelds in die Höhe.
    Die fast dreitausend Erlösersoldaten, die die Schlächterei überlebt hatten und sich in ungeordneten Haufen zu den Füßen der Golanhöhen gerettet hatten, blickten zurück und sahen ein Schauspiel, das sie noch nie im Leben gesehen hatten: eine Wolke am Himmel, die so schnell und fließend ihre Gestalt wechselte, wie es keine Nebelwolke jemals vermocht hätte– als ob sie lebendig wäre. Was sie im Grunde tatsächlich war– mal wie ein Wiesel, das sich auf die Hinterbeine stellte, mal wie ein Kamel oder wie ein Wal, jedenfalls für diejenigen, die solche Tiere schon einmal gesehen hatten. Aber den meisten von ihnen, die nun erschöpft, beschämt, voller Angst und Grauen zurückblickten, erschien die Wolke wie ein Bild des Gehenkten Erlösers, der voller Zorn über den entsetzlichen Verlust und über den gotteslästerlichen Sieg der Lakonier den Kopf schüttelte. Und dann frischte der Wind wieder auf, und der ziellose Flug der Insekten änderte sich und wurde für kurze Zeit zum von Trauer und Hass verzerrten Antlitz eines Jungen. Jedenfalls kam es vielen der Soldaten so vor– und nach ein paar Tagen sogar einer ganzen Menge Männern, die gar nicht dort gewesen waren.
    Innerhalb weniger Stunden traf der Strom der Überlebenden auf den Golanhöhen ein. Gerüchte verbreiteten sich wie weiche Butter auf wundersamem Brot: die Nachricht vom unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang, dass die Juden nach Chartres strömten, um sich zum Glauben zu bekehren, dass die vier zwergenhaften Reiter der Apokalypse durch die Straßen von Ware geritten seien. Auf dem Gravelly Hill sei ein roter Drache erschienen, der hoch aufgerichtet über einer Frau gestanden habe, welche nur von der Sonne bekleidet gewesen sei. Und bei Whitstable habe ein Landfabelwesen die Stadtbewohner gezwungen, ein Meeresfabelwesen anzubeten. In New Brighton sei ein Engel erschienen, mit einer Kristallschale in den Händen, in der der Zorn Gottes zu erkennen gewesen sei. Als all diese Berichte allgemein bekannt wurden, änderte sich die Stimmung, und aus dem Tag der entsetzlichen Niederlage wurde ein Tag seltsamer Freude. Auf dem Golan erzählte man sich, ein Akoluth, ein Junge, habe, nur mit dem Kieferknochen eines Esels bewaffnet, einhundert feindliche Soldaten besiegt und den Erlösergeneral Van Owen vor den antagonistischen Verrätern gerettet, der sein eigenes Heer an die Feinde verraten hatte.
    Obwohl man dieses letzte Gerücht nicht als völlig unwahr bezeichnen konnte, war es auch nicht völlig zufällig entstanden. Boscos Anhänger auf dem Golan und auch alle, die eingeweiht waren und daran glaubten, konnten feststellen, dass die reichlich wirren Versionen im Hinblick auf die Zahlen der beteiligten Soldaten und die Ereignisse, die sich am Pillenhügel abgespielt hatten, auf geradezu verzweifelt leichtgläubige und willige Ohren stießen. Man konnte daher sagen, dass sich die Ereignisse mit ihren Absichten verschworen hatten. Zur allgemeinen Verblüffung rückten die Lakonier nicht weiter zu den Golanhöhen vor, um sie einzunehmen, und sie versuchten nicht einmal, die Linien des Erlöserheeres zu umgehen und es von hinten anzugreifen – nein: Sie blieben einfach dort, wo sie gerade standen.
    Innerhalb kürzester Zeit war jedem einzelnen Erlösermönch auf dem Golan mit absoluter Gewissheit klar, dass die Lakonier angehalten hatten, weil sie ebenfalls die Vision des Gehenkten Erlösers gesehen hatten und weil die Verkörperung seines Zorns sie mit heiliger Gottesfurcht erfüllt hatte.
    Allerdings waren weder die Mücken noch Gott schuld daran, dass sich die Lakonier wieder in ihr Lager zurückzogen, das sie übrigens schon eine Woche vor der Schlacht aufgeschlagen hatten, sondern eine furchtbare, quälende und tief sitzende Angst. Einem weisen Spruch zufolge sollte man nicht alles

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