Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork
verstehst du?«
Erbrow seufzte. Sie nickte, doch dann schüttelte sie den Kopf und seufzte erneut.
»Mama aua«, setzte sie hinzu.
»Ich fürchte, du hast recht. Mama wird nicht erfreut sein. Nicht wenn die Phönixhenne erst einmal den Mund beziehungsweise den Schnabel aufgemacht hat. Ich weiß, ich bin dabei, mich gründlich in die Nesseln zu setzen, aber ich kann nicht anders.«
»Esse?«
»Nessel? Das ist eine Pflanze, die brennt, wenn man damit in Berührung kommt. Wenn einer sich selber ins Unglück bringt, sagt man, er setzt sich in die Nesseln. Das ist eine Metapher, verstehst du, eine bildliche Ausdrucksweise.«
Erbrow nickte.
Sie hatte blaue Augen wie Yorsh, aber in allem Übrigen war sie ganz die Mama. Auch im Gesichtsausdruck, sanft, aber in gewisser Weise würdevoll. Majestätisch, hätte man sagen können.
Jedes Mal wenn in diesen acht Jahren Gefahren zu bestehen gewesen waren, ganz abgesehen von ihrer wechselvollen Flucht, war Yorsh immer wieder sprachlos gewesen angesichts von Robis Fähigkeit zu entscheiden, was zu tun war, und die Sache dann auch in die Hand zu nehmen. Als eine Windhose auf die Felsküste zuraste, war er gerade auf dem Meer draußen, um Netze für die Sardinen auszulegen. Es war Robi gewesen, die alle in die Höhlen geführt und diese mit Felsbrocken hatte verschließen lassen, bevor der Sand, aufgewirbelt vom Wind, wie verrückt über den Strand zu toben begann. In der Hungersnot, die nach monatelangen Stürmen und Gewittern ausgebrochen war, weil man nicht ins Meer und keine einzige Tellmuschel suchen konnte, war es Robi gewesen, die diejenigen aufmunterte, die der Mut verließ, sie war es gewesen, die angefangen hatte, alles nur irgendwie Essbare zu verkochen, von Reihern und Fröschen bis zu Ameisen, von Pinienkernen bis hin zu in Honig karamellisierten Kakerlaken, die sie nicht nur bis in den Frühling retteten, sondern die auch allen Kindern wahnsinnig gut schmeckten.
Die Überzeugung, dass die alte Prophezeiung ihn etwas anging, hatte ihn nie verlassen. Er fragte sich, ob Robi nicht tatsächlich Arduins Nachfahrin war, das Mädchen mit dem Morgenlicht im Namen, seit jeher für ihn bestimmt, den letzten und mächtigsten der Elfen. Vielleicht gab es eine ihm unbekannte Sprache, in der die Lautfolge Robi die Morgenröte bezeichnete, oder vielleicht hatte in diesem einen Punkt die Weitsicht des Herrn des Lichts durch die Jahrhunderte versagt.
Yorsh beschloss, auf der Westseite des Hochplateaus herunterzusteigen. Nicht weit entfernt lagen die beiden Inseln Kuh und Stier, dahinter der Horizont. Auf der Westseite gab es keinen Strand, dafür aber eine schöne Bucht mit ausreichend tiefem Wasser, dass ein Schiff, ohne auf Grund zu laufen, einfahren konnte. Sie war gesäumt von einer Reihe spitzer, steiler Felsen, die wie eine Serie von Türmen direkt aus dem Wasser ragten und winzige Buchten schufen, in denen sich alles ansammelte, was das Meer so anspült, Pinienzapfen, Haufen von Algen, in der Brandung glatt polierte Holzstücke, Skelette von Delfinen und das gigantische Gerippe eines Wals, dessen Wirbel dermaßen groß waren, dass sie einem Menschen als Sitzhocker dienen konnten. Unzählige Wrackteile lagen herum. Yorsh erinnerte sich, gelesen zu haben, dass in früheren Zeiten an dieser Küste blühendes Leben geherrscht hatte. Schiffe kreuzten auf dem Meer, hoch beladen mit Waren, Salinen gleißten in der Sonne und lieferten den Menschen Salz. In dieser Zeit eines regen Handelsverkehrs musste die Tischlein-Insel mit ihrem herrlichen natürlichen Hafen, eingefasst von tückischen Felsen und von starken Strömungen umspült, eine tödliche Falle gewesen sein. Planken in jeder Länge und Stärke lagen da herum, Schiffsmasten verschiedener Größe, Fetzen von Segeln, deren ursprüngliches Weiß nicht mehr zu erkennen war und deren Gewebe völlig verrottet und so durchsichtig geworden war wie ein Spinnenetz. Yorsh betrachtete diese kläglichen Überreste, und auch wenn Generationen seither vergangen waren, fühlte er immer noch den Schmerz der Ertrinkenden. Einen Augenblick lang spürte er die Verzweiflung und hörte die Schreie, als die Brandung die Oberhand gewann über den Willen der Menschen und die Seeleute wussten, dass ihre letzte Stunde gekommen war. Die kleine Erbrow unterdrückte ein Schluchzen, und da war Yorsh klar, dass sich auch für sie in diesen Holzteilen und Segelfetzen Leben verbargen, die unterbrochen, und Atemzüge, die abgeschnitten worden waren. Einen
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