Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork
fehlte ihr ganz schrecklich. Sie hätte so gern weinen mögen, aber Mama hatte gesagt, dass man das nicht darf. Wenn sie weinen könnte, dann würde sich dieser kalte, steinerne Klumpen, den sie in sich trug, lösen. Sie hätte gewollt, dass Mama sie im Arm hielte, wo man die Herzen der Brüderchen hören konnte, dann hätte sich der steinerne Klumpen vielleicht auch gelöst, wenigstens ein bisschen, aber Mama konnte sie nicht im Arm halten, sie hatte immer anderes zu tun.
Als sie ganz wach war, bemerkte Erbrow, dass ihre Mama schlafend neben ihr lag. Einen Augenblick lang fühlte sie sich getröstet, doch dann fiel das Mondlicht voll ins Zimmer und sie sah das Blut. Ihre Mama hatte welches im Gesicht, auf dem Kleid, auf den Haaren, oder besser, auf dem, was davon übrig war. Mama war verletzt. Das Mädchen legte die Hand auf Mamas Schulter, wo unter dem zerrissenen Kleid aus einer kleinen, noch frischen Wunde ein paar Tröpfchen Blut sickerten, und heilte sie. Die Anstrengung war übermäßig und sie hatte Lust zu weinen. Doch sie konnte die Tränen hinunterschlucken, und wieder wünschte sie aus ganzer Seele, ihren Papa bei sich zu haben.
Sie musste dringend Pipi. Bei sich zu Hause, dort, wo sie geboren war, brauchte man nur hinaus an den Strand zu gehen. Erbrow fragte sich, wie man an diesem seltsamen Ort, wo sie sich jetzt befand, an den Strand kam. Mama würde das ganz bestimmt wissen, aber sie schlief jetzt. Auch im Schlaf spürte Erbrow, wie abgrundtief erschöpft sie war, und wagte nicht, sie zu wecken.
Sie ließ sich aus dem Bett auf den Boden gleiten. Das Mondlicht erhellte nun den ganzen Raum. Neben ihrer Mutter sah sie das Schwert mit den Efeuranken, auf dem sie ihre Omeletts gebraten hatten und das jetzt ganz mit Blut verschmiert war. Erbrow riss die Augen auf und lief weg, denn das wollte sie nicht sehen. Auf ihrer Suche nach dem Strand fragte sie sich, wie sie es nun anstellen würden, mit den Omeletts, und ob sie überhaupt je wieder Möwennester finden würden.
Ziellos lief sie herum, sie fand keinen Strand. Ihr Zuhause war ein einfacher Ort gewesen, der bei den Wänden aufhörte. Drinnen war Haus, da schlief man, und draußen war Strand, da konnte man Pipi machen, auch nachts, ohne sich allzu weit von Papa und Mama zu entfernen, die schliefen. Zuhause, da war das Efeuschwert blank und sauber gewesen und hatte zum Omelettmachen gedient, und da war Papa gewesen, der ihr Geschichten erzählte und Lieder vorsang, wenn die Dunkelheit hereinbrach und ihr Angst machte.
Wo sie jetzt war, das schien ein merkwürdiges Haus zu sein, es ging immer weiter, eine Tür nach der anderen, und hörte nie mehr auf. Erbrow fragte sich, wo sie den Strand gelassen hatten. Sie kam in einen Garten voll grünem Gras und großen Blüten, die im nächtlichen Tau schimmerten, und wenigstens das Problem mit dem Pipi konnte gelöst werden.
Erbrow musste einsehen, dass sie sich verlaufen hatte. So schrecklich die Vorstellung war, zu ihrer Mutter mit dem blutigen Schwert zurückzukehren, die Vorstellung, nicht mehr dorthin zurückzufinden, war noch schlimmer.
Immer mächtiger verspürte Erbrow den Wunsch zu weinen, aber Mama hatte gesagt, dass man das nicht durfte. Sie setzte sich auf den Boden, schlang die Arme um die Knie und legte den Kopf darauf. Sie holte ihre Puppe aus der Tasche, nahm sie in die Hand und strich mit den Fingern über das abgenutzte Holz, aber auch das schenkte ihr keinen Trost. Ihr Papa war mit dem Drachen fortgegangen und sie war allein. Sie wusste nicht, was vor sich ging. Alles machte ihr Angst. Alles war grauenhaft. Das Omelettschwert blutverschmiert. Auch Mama war voller Blut und obendrein hatte sie, Erbrow, sich verlaufen. Alles war kalt.
Mama hatte gesagt, dass man nicht weinen darf.
Mama hatte gesagt, sie wollte die Mutter von zwei lebenden Kindern sein.
Die Brüderchen waren zwei und sie würden leben.
Sie wurde nicht gebraucht. Erbrow konnte gehen.
Am Boden kauernd, träumte Erbrow davon, dass ihr Papa käme und sie auf den Drachenflügeln mitnähme. Sie überlegte sich, wenn sie ihr Herz anhielte, würde das geschehen. Mama hatte ja die zwei Brüderchen und sie hatte sich verlaufen … Erbrow wusste, wie man selbst sein Herz anhält. Ihr Papa hatte es nicht getan, aber während er seinen Blick tief in den ihren senkte, hatte er daran gedacht, und sie hatte es verstanden.
Jemand berührte sie. Erbrow hob den Kopf und im schwachen Licht sah sie eine große Gestalt mit hellem, sanft
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