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Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork

Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork

Titel: Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana de Mari
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zu treffen, die Blütenkrone einer Mohnblüte aus einer Entfernung von sechzig Fuß. Auf den Zoll genau kalkulierte sie die Richtung des Pfeils und die Kraft, mit der sie ihn abschießen musste. Sie war die geborene Bogenschützin. Glück schimmerte in ihren Augen wie Mondschein am Morgenhimmel. Rankstrail dachte, Jagen zu lernen, müsse aufregend für sie sein.
    Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung im Farn, wies sie darauf hin, sie zielte. Nichts regte sich mehr im Gebüsch. Sie hatte ein kleines Kaninchen getroffen. Rankstrail lachte vor Freude. Aurora war blass geworden. Sie stürzte zu dem verwundeten Kaninchen und sah es sterben, verzweifelt und mit Tränen in den Augen. Rankstrail wünschte sich von ganzem Herzen, dass es die Unterwelt geben möge und dass sie sich auftun möge, um ihn zu verschlingen. Dabei hatte er doch gehört, was über die Tochter des Verwaltungsrichters so geredet wurde. Sie sei dumm, sie sei krank, sie sei immer traurig, sie sei verrückt wie ihre Mutter und weigere sich, irgendetwas zu essen, was gelebt hatte. Irgendwas musste da schon dran sein.
    Aurora bat Rankstrail, das Tier für sie aufzuheben, denn sie konnte es nicht, ohne den Saum ihres Brokatkleides mit Schlamm zu beschmutzen, sie konnte es auch nicht auf dem Arm halten, ohne sich die Samtjacke mit Blut zu beflecken. Rankstrail gehorchte, und während er das tote Tier in seinen riesigen Händen hielt, streichelte Aurora sanft sein Fell. Aber auch da, als ihr die Tränen in den Augen standen, dachte der Hauptmann, selbst dieser Schmerz sei besser als die Leere, selbst dieses Weh sei besser als das Nichts. Und er erzählte ihr vom Hunger. Wie der Hunger die Körper aushöhlt, wie er den Husten verursacht, der nicht mehr vergeht, wie er den Geist kleinlich und eng macht. Wie hungrige Kinder verkrüppelt und manchmal dumm wurden, wie die Seele verödete, verelendete, niederträchtig und gemein wurde.
    Hunger macht die Großzügigkeit zunichte und lähmt den Mut.
    »Mein Fräulein, hört mir zu. Der Tod ist nicht die Verneinung des Lebens, sondern nur die andere Seite der Medaille. Seht her«, setzte er hinzu und zog seine letzte Münze aus der Tasche, »alle sterben, um ihren Kindern Platz zu machen, auch wir beide werden sterben, um den Kindern, die wir haben werden, Platz zu machen, und wir werden es mit Freuden tun, denn die Ehre, Kinder zu haben, ist größer als die Angst vor dem Tod. Ohne den Tod wäre das Leben eine beliebige Folge von sinnlosen Tagen. Der Tod der einen ist das Leben der anderen. Die Eule frisst die Maus, der Reiher frisst die Frösche, und wenn sie das nicht täten, würde es zu viele Mäuse und zu viele Frösche geben, die dann nichts mehr zu fressen fänden, und alle miteinander würden sterben und die Welt mit ihrem Verwesungsgestank verpesten. Hier, nehmt«, sagte er schließlich und gab ihr die Münze, seine letzte Habe, »so werdet Ihr Euch erinnern an das, was ich Euch gesagt habe, und werdet mir vielleicht verzeihen, dass ich Euch dazu verleitet habe, dieses kleine Kaninchen zu töten.«
    Das Mädchen sah ihn lang an und nickte dann.
    »Ich bitte Euch, Herr, behaltet das Tier, und gebt es in meinem Namen jemandem, der Hunger hat und den es satt machen kann, möglichst einem Kind. Ich wäre Euch sehr dankbar für diesen Gefallen, und ich bitte Euch, verzeiht die Umstände, die ich Euch dadurch verursache. Herr, verzeiht meine unumwundene Frage: Habt Ihr jemals getötet?«
    Rankstrail begriff, dass hier nicht mehr von Kaninchen und Reihern die Rede war. Er antwortete ihr ehrlich, dass er in seinem Leben Menschen getötet hatte: die Schwarzen Banditen, die ein Bauerngehöft an einem kleinen See angegriffen und zerstört hatten, diejenigen, die ihre Kameraden bei lebendigem Leibe verbrennen wollten, und all jene, die es verdient hatten.
    »Aber Ihr würdet das nur tun, um Leben zu retten, Eures oder das anderer? Und Ihr werdet es nie vergessen?«, wollte Aurora wissen.
    Rankstrail verstand nicht, ob das eine Feststellung oder eine Bitte war oder ob sie ihm ein Versprechen abnehmen wollte. Er hatte sein Lebtag lang nie mehr an die Menschen gedacht, die er getötet hatte. Er musste an Trakrails Vorschlag denken, Gefangene zu machen, und wieder kam ihm das absurd vor. Er verspürte ein vages Unbehagen, wie wenn seine Mutter ihn beim Herumbalgen auf der Straße erwischte, nachdem sie ihn unzählige Male ermahnt hatte, das nicht zu tun.
    Er nickte.
    Er versprach es.
    Er würde es nur tun, um Leben zu

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