Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork
alle.
Rankstrail ließ den Wolf in Lisentrails Obhut zurück und begab sich zum Palast des Richters. Der klobige, unharmonische und düstere Bau war ihm unangenehm. Er war hässlich und unbequem zugleich. Schon beim ersten Mal, während des langen Tages, den er mit Aurora im Garten verbrachte, hatte er ihn irritiert, aber da war er mit anderem beschäftigt gewesen, als auf die Architektur zu achten. Jetzt konnte er den Bau aus größerer Nähe und in aller Ruhe betrachten, denn trotz der Dringlichkeit der Vorladung blieb ihm doch ein halber Tag des Wartens nicht erspart. Der Page, der ihn hereingeführt hatte, bemerkte, wie er erstaunt die düsteren Mauern und die wenigen, schlecht verteilten Fenster an der schmucklosen Fassade betrachtete, missverstand diese Blicke und erklärte stolz und auftrumpfend, das sei der »Neue Stil«.
Ganz Daligar mit seinen albernen, von Kolonnaden eingefassten Gärten, seinen banalen Wendeltreppchen aus Stein, die sich an den Häusern hinaufwanden, seinen kitschigen Balkonen unter Kletterpflanzen, den schmiedeeisernen Gittern, den Haustoren mit ihren Türstürzen aus behauenem Marmor, den Tempelchen mit gedrechselten Doppelsäulen, den Nischen und Bogenfenstern, mit zwei, drei oder vier Bögen – all das würde abgerissen und neu aufgebaut werden, um deutlich zu machen, dass mit dem Verwaltungsrichter eine neue Zeit begann, eine neue Ära. Ein neuer Stil. Auch an einer neuen Sprache wurde gearbeitet. Sobald die Elfenverschwörung zerschlagen war und die Wirtschaft sich wieder erholte, würde man sich um den »Neuen Stil« kümmern. Zum ersten und letzten Mal ging Rankstrail da durch den Kopf, dass es durchaus seine positiven Seiten haben kann, ein Volk von Habenichtsen und Hungerleidern zu sein.
Während er sich im Hof aufstellte, in der erwartungsfrohen Hoffnung, dass ihm jemand sagen möge, was er tun sollte, vernahm Rankstrail eine Stimme: »Mein Herr!«
Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, dass er gemeint war. Hinter einem Gitter, das ein schmales Fenster verschloss, sah er sich der einzigen Person außer dem Geldverleiher gegenüber, die ihn in dieser Weise angeredet hatte. Aurora, die Prinzessin von Daligar, war immer noch sehr schön, aber viel weniger durchsichtig als bei ihrer ersten Begegnung. Sie war mindestens zwei Spannen gewachsen, ihr Nacken schien nicht mehr aus den Knöchelchen eines Zeisigs gemacht, sondern wuchs stolz und kräftig aus den Schultern empor, die breiter geworden waren, während die Arme nichts Zerbrechliches mehr hatten. Mit Eidechsen und Fröschen genährt, hatte ihr Körper offenbar den Willen gefunden, zu wachsen und zu gedeihen; nun lag in den Händen, die aus den Brokatärmeln hervorkamen, ebenso viel Anmut wie Kraft. Der Hauptmann überlegte sich, dass das kein Kind mehr war, das da mit ihm sprach, sondern eine junge Frau. Sehr jung, gewiss, die Kindheit lag kaum hinter ihr, aber unbedingt eine Frau.
»Mein Herr!«, hauchte sie noch einmal.
Ihre Augen leuchteten wie die Sommersonne zwischen Jasminblättern, wie das Frühlingslicht auf Kleeblüten, sie waren so klar wie das Quellwasser auf der Kastaneda, so tiefgrün wie Kiefernwipfel, wenn sie unter dem Schnee hervorleuchten. Sie hatten die Farbe des Winds, der über die Hügel streicht. Sie begegneten denen das Hauptmanns und Aurora lächelte.
Weder Scham noch Schuld noch Angst, dachte Rankstrail.
»Hat er Euch etwas angetan, meine Dame?«, fragte er besorgt, obschon ihr Lächeln ihn schon beruhigt hatte. »Der Verfluchte, meine ich.«
»Er ist kein Verfluchter, mein Herr, sondern der Letzte und Mächtigste vom Volk der Elfen. Er hat ganz einfach meinen Garten durchquert, während sich sein Los erfüllte. Hört zu, mein Herr, es gibt da eine Prophezeiung von Arduin höchstpersönlich, besser gesagt, es gab sie, denn mein Vater hat sie wegmeißeln lassen. Das einzig Böse, das der letzte Herr der Elfen mir hätte antun können, wäre gewesen, dass er sich in meine Person verliebte, und das musste ich verhindern. Ich habe etwas Schändliches begangen und einem kleinen Mädchen wehgetan und das tut mir leid, aber es war notwendig. Ich musste mich in dieser Weise albern und ekelhaft aufführen, um sicherzugehen, dass der letzte und mächtigste der Elfenkrieger, wenn er mich sah, nicht den Wunsch hegen konnte, sein Leben mit dem meinen zu verbinden. Er ist noch einmal wiedergekommen, aber nur um diejenige zu befreien und mit sich zu führen, die seine Königin sein wird, die
Weitere Kostenlose Bücher