Die letzten Städte der Erde
sich nieder und blickte in Mischas blicklose Augen.
»Und?« fragte Mischa.
Die Frage stockte ihm hinter den Lippen. Und langsam hob Mischa die Hand und berührte mit gespreizten Fingern Andreijs Gesicht, wanderte dann zu seiner Brust hinab, als suchte sie auch dort nach etwas.
»Ein Besuch ohne Fragen, Andreij Wasiljewitsch?«
»Ich habe mein Glück verloren, Mischa.«
»So.« Mischa schöpfte Wasser aus dem Kessel, goß es in die Schale und reichte sie ihm. Andreij nahm die Schale zwischen die behandschuhten Hände, atmete den Dampf ein und nippte kurz an der Oberfläche, denn eine so starke Hitze bot nach der Kälte draußen Gefahren. Nach einem Moment trank er mehr, aber die Kälte verließ ihn nicht, und auch der Schleier über der Welt wurde nicht klarer.
»Ich sehe Wölfe«, sagte Andreij.
Die stumpf gewordenen Augen ruhten in den seinen, von Runzeln umgeben, als steckten sie in gebrochenem Gestein.
»Einen weißen Wolf«, sagte Andreij. »Weiß wie Schnee. Weiß wie Eis.«
Der alte Mischa krümelte weitere Kräuter in eine weitere Schale und schöpfte wieder Wasser hinein, trank daraus, die schwarzen Augen verdeckt.
»Ich habe auf ihn geschossen«, erzählte Andreij. »Aber er war heute doch wieder da. Ich habe in die Sonne geblickt, Mischa.«
Mischa starrte ihn an, als könnten seine Augen sehen.
»Was soll ich nur machen, alter Jäger?«
Mischa bewegte den linken Arm, zeigte ihm den Stumpf. »Beschwichtige ihn«, sagte er. »Das ist alles, was du zu tun hoffen kannst.«
Andreij setzte die Schale ab, schlang die pelzbedeckten Arme um so fester um sich und starrte den alten Jäger an. Zauberer. Visionär... der die weiße Krankheit gehabt – und überlebt hatte.
»Du hast es gesehen«, meinte der Seher. »Du hast mit dem Wind gesprochen und seine Antwort gehört. Du bist vor dem Wolf hergelaufen. Und das Licht ist in deine Augen gedrungen, wie schon in die deines Vaters, meines alten Freundes. Es hat ihm alles genommen. Ich gab ihm auch einen Teil von mir. Und ich bin immer noch am Leben, Andreij Wasiljewitsch. Deine Mutter gebar dich und siechte dahin; und so starben sie beide. Aber ich bin noch am Leben, Sohn meines Freundes.«
Andreij erhob sich taumelnd und eilte zur Tür, blickte zurück in das verhutzelte Gesicht, verschleiert von einer grauen Kapuze, mit einer Hand die Schale haltend. Er empfand die Kälte sogar noch stärker als vorher, auf dem Gesicht und im Herzen, überall, wo ihn die Finger des blinden Jägers berührt hatten. »Ich bringe deine Gebühr«, sagte er, »von meiner nächsten Jagd mit, ein paar fette Kaninchen, Mischa.«
»Ich nehme nichts«, sagte der alte Mann. »Nicht von dir, bis du siehst, Andreij Wasiljewitsch.«
Andreij floh aus dem Haus, stampfte draußen auf und schloß die äußere Tür. Umnik wartete. Er stieg die Stufe zu dem Pony hinab und bemerkte jetzt zum ersten Mal, wie sich die Bemalung von dem gegenüberliegenden Haus abschälte, wie alle Farben Moskvas knallig wirkten, wie schmutzig der Schnee war und wie unordentlich die Menschen, eingemummt in nicht zueinander passende Felle.
Langsam, das Auge zusammendrückend und die Schulter drehend, blickte er nach oben. Farben trieben über den Himmel, tanzten die Dachfirste entlang, liefen über die Kanten, ein fließender Glanz von Rosa und Gold.
Das
war Schönheit. Rings um ihn war flüchtig bemalte Häßlichkeit.
Mit ganzem Herzen verlangte es ihn danach, weiter Ausschau zu halten, hinaus auf das Eis zu gehen und in den Norden zu reiten, in die reine strahlende Schönheit.
Aber der Wolf war dort. Und die Schönheit tötete. Er erschauerte, nahm Umniks Zügel und ging langsam auf die Straße, ging sie hinunter, vorbei an Menschen, die ihn neugierig anstarrten und hinter vorgehaltener Hand flüsterten. Es war der Schwund. Er wußte es jetzt... das, was die Seelen derjenigen austrank, die dieser Krankheit zum Opfer fielen. Es war die Vision. Es war der Blick auf alles, was Hände fertigten, und das Wissen dabei, daß man nur nach oben schauen mußte – und nachdem man es getan hatte, sich dieser Leere zu ergeben, die bestehen würde, nachdem die ganze Welt verbraucht war. Sich selbst zu messen und die eigenen Taten angesichts dieser weißen Decke, und zu entdecken, daß sie letztlich klein waren und unschön.
Die Schönheit wartete außerhalb der Stadtmauern, war so nahe wie ein Blick in den offenen Himmel; die Schönheit wartete – und mit ihr der Wolf.
Beschwichtige ihn, hatte der alte Jäger
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