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Die letzten Städte der Erde

Die letzten Städte der Erde

Titel: Die letzten Städte der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.J. Cherryh
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gesagt, der keiner mehr war, Mischa, der keine Sonnenaufgänge mehr sah, der einen Teil seiner selbst den Wölfen gegeben hatte – dem Wolf.
    Er ging nach Hause. Ilja und Iwan Nikolajew liefen hinaus, um ihn zu begrüßen, und auch die Frauen und Kinder kamen, hatten sich Sorgen um ihn gemacht. Anna kam und Katja, und beide drückten ihn an sich. Ruhig nahm er Umnik das Geschirr ab und erwartete, daß das Tier zum Stall trottete – aber es blieb stehen. »Bring ihn hinein!« befahl er dem kleinen Iwan, und der Junge führte das Pony weg. Andreij blickte dem zockelnden Tier hinterher und zitterte. Er spürte innerhalb seines Handschuhs eine andere Hand, eine Berührung auf seinem Arm... Er blickte in Annas liebende Augen, in ihr Gesicht, sah Mängel, die er zuvor nie gesehen hatte, die Nasenlänge, die Wangenbreite, die Unvollkommenheit ihrer Stirn. Darauf erkannte er den kleinen Fleck einer Narbe, jedoch nicht in der Mitte, und ihr Haar, das er immer für so hell wie den Sonnenuntergang auf Schnee gehalten hatte, war stumpf, die Zöpfe glanzlos angesichts der Schneeflocken, die sie umwehten, winzige Sterne, die in dem lockeren Haar steckten... Das war Schönheit, und sie rief die Kälte zurück und die Furcht.
    »Komm herein!« drängte ihn Anna, und er übergab Ilja das Geschirr und folgte Anna, hielt sie dabei an der Hand, und vor ihnen gingen alle anderen zum Haus und betraten die Diele. Er legte seine Stiefel und Felle für draußen ab und begrüßte die Kinder mit einer Handberührung und die Alten am Kamin mit einem Kuß, erblickte überall die Sterblichkeit, die kurze Lebensspanne des Menschen und seine Kleinheit.
    »Andreij?« Anna setzte sich neben ihn, dicht am Kamin, und ergriff wieder seine Hand. Er küßte und hielt die ihre, weil es freundlich war, aber Liebe und Hoffnung waren in ihm vertrocknet... – ein Jäger, der die Stadtmauern nicht mehr verlassen konnte, der dasaß, während die Seele in ihm verwelkte.
    Nichts Schönes war an den Menschen. Nur die Schönheit existierte, die über Moskva lag und die die Stadt umgab. Sie würde ihm den Geist rauben oder ihn das Augenlicht kosten. Er starrte in das Feuer, und es war nichts im Vergleich zum grellen Glanz der Sonne auf Eis.
    Eine Stille legte sich um ihn, ob es nun die Stille des Hauses war, weil die anderen wußten, daß etwas mit ihm nicht stimmte, oder die Stille in seiner Seele. Er dachte daran, wie einfach es sein sollte, wie furchtbar einfach, am nächsten Mittag hinauszugehen und in die Sonne zu starren, bis er nicht mehr sehen konnte, aber selbst dann würde es noch die Erinnerung geben.
    Er dachte immer wieder an den alten Mischa, der seine Augen und seine Hand verloren hatte... – beschwichtige ihn: aber was war zuerst gegangen, was half gegen den Wolf? Er hätte danach fragen sollen.
    »Andreij?« Ilja packte ihn am Arm. Er hörte jemanden neben sich weinen, vielleicht Anna, oder auch jemand anderes, der ihn liebte. Vielleicht war er es selbst. Er sah Iljas Gesicht vor sich, die große Besorgnis darin, sah eine Hand vor seinen Augen vorbeihuschen, hörte die anderen alle über seine Not diskutieren, aber es war ihm nicht mehr möglich, von diesem fernen Ort zurückzukehren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er hatte auch nicht den Wunsch.
    Sie fütterten ihn, steckten ihm das Essen in die Hände. Und er aß, schmeckte dabei kaum etwas. Schließlich nahm Anna sein Gesicht zwischen ihre weichen Hände und küßte ihn auf die Stirn, und Mutter Katja folgte ihrem Beispiel. »Was
hat
Andreij denn?« fragte eine Kinderstimme. Er hätte es dem Kind erklärt, aber jemand anderes tat es: »Er ist krank. Er ist verwundet. Geh ins Bett, Kind!«
    »Seine Hände sind kalt«, sagte wieder ein anderer. Und Annas Stimme: »Verschließt die Türen! Oh, verschließt die Türen, laßt ihn nicht weglaufen!« Manche gingen nämlich fort, um zu sterben, wenn der Schwund von ihnen Besitz ergriffen hatte, suchten die Nacht und den eisigen Tod.
    »Ich werde nicht gehen«, sagte er, und es kostete ihn große Mühe zu sprechen. Es war auch nicht einfacher, als er es gesagt hatte. Es heiterte alle auf. Sie drückten ihn nacheinander an sich und rieben seine Hände.
    »Vielleicht«, sagte Annas ruhige, ferne Stimme, »vielleicht hat er nur für einen kurzen Moment aufgeblickt. Vielleicht wird er wieder gesund.«
    »Das wird er«, versicherte jemand, aber Andreij wußte nicht genau, wer. Es wäre leichter gewesen, sich an diesen fernen Ort zurückzuziehen,

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