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Die letzten Städte der Erde

Die letzten Städte der Erde

Titel: Die letzten Städte der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.J. Cherryh
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aber sie ließen ihn nicht in Frieden.
    »Ich bringe ihn ins Bett«, sagte Ilja. »Geht schlafen. Ich kümmere mich um ihn. Nein, Anna – Anna, bitte geh!«
    Jemand küßte ihn, zärtlich und traurig. Langsam kehrte Schweigen im Haus ein. Andreij ruhte sich aus, starrte ins Feuer, wurde erst gestört, als Ilja sich daran machte, die Glut anzufachen. »Willst du hinaufgehen?« fragte Ilja schließlich. »Wagst du es, schlafenzugehen?«
    Er stand auf aus Freundlichkeit denen gegenüber, die ihn liebten, hielt sich dabei am Kaminsims fest, starrte unverwandt in das Gesicht von Iljas geschnitztem Wolf, der härter und echter wirkte als alles andere im Zimmer. Er betrachtete Iljas anderes Werk, den geschnitzten Sims selbst, fuhr mit den Fingern über die gewundenen hölzernen Reben und Blätter, berührte die geschnitzten Blumen, zeichnete die knalligen, schreienden Farben nach.
    »Ich habe Schönheit gesehen«, sagte er. »Ilja, du hast keine Ahnung. Sie wartet da draußen...«
    »Andreij«, sagte Ilja.
»Ich habe Farben gesehen... – die du nie erblickt hast.«
    Ilja streckte die Hand aus und drehte Andreijs Gesicht in seine Richtung, schlug ihm leicht auf die Wange. Ein furchtbarer Schmerz war in Iljas Gesicht zu erkennen, genau wie bei Anna.
    »Erzähl mir davon!« sagte Ilja.
    Er dachte darüber nach und wollte nicht. »Andreij, wenn du gehst, wird Anna dir folgen.
    Verstehst du? Anna liebt dich; und du wirst nie allein gehen.«
    Er dachte auch darüber nach, und tief in seinem Inneren, gefärbt durch sein Selbst und klein, war eine Freundlichkeit, dort, wo zuvor Liebe gewesen war, und das bildete den anderen Pol, der ihn anzog. Der Tod draußen zog an ihm, aber innerhalb der Mauern bestand ein Band zu lebenden Seelen, so daß er endlich wußte, wofür er sich entscheiden sollte, nämlich für den Weg Mischas. Er wollte diese Qual nicht denen zufügen, die ihn liebten. Nicht Anna.
    »Scheint die Sonne noch?« fragte er.
»Nein«, sagte Ilja sanft. »Die Sonne ist untergegangen.«
    »Dann morgen.«
»Was, morgen?« fragte Ilja. »Was wird morgen sein?«
    Es war schwer, Ilja zu widerstehen, der ihm nahestand und schon so lange sein Freund war. Ein Bruder. Sein zweites Ich. »Da war ein Wolf«, sagte er langsam, dort am Kaminsims lehnend, und befingerte dabei die von Iljas Hand gefertigten Schnitzereien »Ich habe ihn gejagt – und er jagt mich. Ich habe mit dem alten Mischa gesprochen, weißt du, Ilja? Und Mischa kennt dieses Tier. Er sagte, ich müsse es beschwichtigen und würde dann frei sein; und ich werde es tun. Du liebst die Schönheit, Ilja, und ich habe sie gejagt und habe sie gesehen... da draußen habe ich die Sonne gesehen und das Licht und das Eis, und mir ist kalt, Ilja. Ich werde jetzt in kurzen, gestohlenen Augenblicken hinschauen, und früher oder später werde ich zu den Mauern hinausgehen müssen. Er wird dort warten.«
    »Anna... würde dir folgen. Begreifst du das, Andreij? Wie sehr sie dich liebt?«
    Er nickte. »Also«, sagte er, weiterhin den Wolf anstarrend, »also werde ich nicht den Wunsch haben zu gehen. Ich werde versuchen, es nicht zu tun, Ilja.«
    »Was... hast du gesehen?«
    Er blickte Ilja in die Augen und sah dort einen Hauch derselben Kälte. Eines heimlichen Verlangens. »Nein«, sagte er. »Laß es. Bleibe nicht in meiner Nähe. Laß mich in Ruhe!«
    »Damit du gehen und sterben kannst?«
    Er zuckte die Achseln. Ilja betrachtete ihn verzweifelt. Andreij tätschelte seine Schulter und ging zur Leiter, die zum Dachgeschoß hinaufführte. Blieb dann stehen, denn er konnte den Wind draußen heulen und nach ihm rufen hören, hinaus zum Wolf. »Er ist da«, sagte er. »Unmittelbar vor der Tür.«
    »Ich werde auf dich achtgeben«, sagte Ilja. »Das werde ich; auch Anna, einer nach dem anderen, wir alle. Wir lassen dich nicht gehen.«
    Andreij blickte zur Tür und konnte durch sie hindurchsehen in die blaue Nacht. Ilja packte ihn am Arm, trug eine brennende Kerze, um den Weg zum Dachgeschoß zu beleuchten. »Komm!« befahl er ihm, und er kletterte die Holzleiter mit ihren Blumenschnitzereien hinauf zwischen die bemalten Säulen und Pfosten des Dachgeschosses, ging leise zwischen den im ganzen Raum schlafenden Kindern hindurch. Da lag ihre eigene Nische; Ilja schloß die Tür, führte die Kerze an die Nachtlampe und blies den Docht aus, kleine alltägliche Handlungen, die sie an jedem Abend ihres Lebens ausführten und die jetzt tröstlich waren. Andreij bewegte sich lebenslangen

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