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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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also zwang er seine Gedanken wieder zu dem Fall zurück. Dabei baute sich eine Anspannung auf, die er nicht mehr unter Kontrolle hatte. Es passierte ganz unvermittelt, wie eine verschlossene Tür, die nach Ewigkeiten plötzlich aufsprang. Er war nicht mehr bei Emily. Es war ein Sommertag, und er befand sich zusammen mit Jenny auf ihrem alten Sampan. Die Farben – Gold-, Blau- und Grüntöne – fielen ihm auf, wie perfekt sie waren, wie das feinste Porzellan. Jenny deutete auf etwas im Wasser. Er folgte der Richtung ihres ausgestreckten Armes. Mai-mai trieb unter der Oberfläche eines smaragdgrünen Meers dahin. Zuerst dachte er, sie sei tot, doch dann reckte sie den Kopf zum Himmel. Als sie ihn sah, winkte sie ihm lächelnd zu. In Zeitlupe trat er ans Ende des Sampan, sammelte alle Energie und tauchte ins Meer. Sie folgte ihm nach unten, immer weiter, langsam in die Tiefen des freundlichen Ozeans.
    Als Emily sah, daß der Chief Inspector halluzinierte, stand sie auf und starrte ihn an. Das Opium hatte die Spannungen gelöst, unter denen er sonst zu leiden hatte. Er wirkte jungenhaft, unschuldig – und wunderschön. Einen Augenblick lang spielte sie mit einem unartigen Gedanken, verwarf ihn jedoch gleich wieder als unpraktikabel. Manche Sünden waren wirklich den Männern vorbehalten. Seufzend ging sie hinüber zum Swimmingpool. Das Problem beim Opium bestand darin, daß man sich so schnell daran gewöhnte. Sie würde zehn Pfeifen brauchen, um Chans entrückten Zustand zu erreichen. Aber solche Exzesse forderten ihren Preis. Manchmal fand sie keine Verzückung, sondern Dämonen, eine lange graue Reihe ausgemergelter Chinesen, die sich in die Unendlichkeit erstreckte. Sie kniete vor jedem dieser Geister nieder, um ihn um Verzeihung zu bitten; und alle versprachen sie ihr, ihr zu vergeben, sobald die anderen ihr vergeben hätten. Es war eine seelische Folter, nicht mehr wie früher, als die Droge sie noch erfrischt hatte.
    Selbst nach der geringen Menge spürte sie schon die Sklavengeister, eine flüsternde Armee, genausowenig greifbar wie der Wind, aber auch genauso beharrlich; Stimmen wie trockenes Gras, die ihren Namen riefen. Schnell kehrte sie zum Tisch und zur Pfeife zurück. Gegen Opiumphantome half nur noch mehr Opium, das hatten schon Sherlock Holmes und Thomas De Quincey gewußt.
     
    Chan erwachte in genau der Position aus dem Opiumtraum, in der er ihn begonnen hatte – die Ellbogen auf dem Marmortisch, interessiert nach vorne gebeugt, entschlossen, die Dinge, die sich in der Ferne abspielten, nicht zu verpassen. Sogar seine Stirn war noch gerunzelt wie vor fünf Stunden. Jetzt war es Tag, und als die Wirkung der Droge nachzulassen begann, traten Schweißperlen auf seine Stirn. Er durchsuchte das Haus, fand aber nichts. Nicht einmal ein Bediensteter tauchte auf. Plötzlich erinnerte er sich an das Minimikro und den Sender in seiner Tasche und stellte fest, daß sie verschwunden waren. Die schwarze Aktentasche mit dem Empfänger und dem Kassettenrekorder befanden sich noch immer unter dem Tisch, wo er sie abgestellt hatte. Aber sie war offen und leer. Zehn Minuten lang stand er bewegungslos da und versuchte die Worte und Ereignisse der vergangenen Nacht festzuhalten, die ihm durch die Finger zu schlüpfen drohten. Sie hatte einen Narren aus ihm gemacht, diese Milliardärin, die sich nicht um Gesetze scherte, aber er stand noch zu sehr unter dem Einfluß des Opiums, um sich darüber Gedanken zu machen.
    Auch der Swimmingpool war leer – und verführerisch. Er zog sich aus und sprang nackt in dieses perfekte Blau – hinunter, hinunter. Das Schöne am Opium war, daß man am nächsten Tag das Gefühl hatte, so gut wie noch nie im Leben geschlafen zu haben, obwohl man seine Würde verloren hatte.
    Am Abend jedoch merkte er, daß die Droge seinem Körper alle Kraft und Konzentration entzogen hatte. Er ging früh nach Hause, legte sich aufs Bett und schlief sofort ein.
    Mitten in der Nacht wurde er von lautem Klingeln geweckt. Er schüttelte den Kopf hin und her, stützte sich mit dem Ellbogen vom Bett ab und tastete sich zum Telefon im Wohnzimmer vor. Er lehnte sich nackt an die Wand und hörte der Stimme zu. Sie gehörte einem Inspector namens Spruce von Scotland Yard und wollte wissen, wie spät es in Hongkong sei. Diese Frage stellten die Engländer oft, als falle es ihnen schwer zu glauben, daß es noch etwas anderes als die Greenwich Mean Time gab.
    »Sieben Stunden später als bei Ihnen.« Chan war noch

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