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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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einmal zum Fenster hinaus. Er hatte den Blick schon so oft genossen, daß er sich ihm unauslöschlich eingebrannt hatte. Er kannte nicht einmal seine Wohnung, den Körper seiner Frau oder seine eigene Handfläche besser, aber dieser Blick hatte sich über Nacht verändert.
    Das war wie ein Musikstück, das man immer wieder gehört hat; plötzlich kommt jemand auf die Idee, es in einer anderen Tonart zu spielen, und schon verändert sich die Bedeutung auf ewig. Der Blick auf den Hafen war verführerisch wie immer, aber dunkler und viel, viel machtvoller. Wenn er’s richtig bedachte, war er noch attraktiver als zuvor.
    »Ich bin ungefähr eine Stunde weg«, sagte er zu seiner Sekretärin und ging mit schnellen Schritten zum Lift.
    Am Statue Square schlenderte er zum Gebäude der Hong Kong Bank, ging darunter hindurch, überquerte die Queen’s Road und passierte das Hilton, bis er am Cotton Tree Drive ankam, den er überquerte. Ein paar hundert Meter weiter befand sich die Bank of China. An der Rezeption gab er seinen eigenen und den Namen des Mannes an, mit dem er sich treffen wollte. Der alte Wachmann nickte voller Respekt und deutete nach einem kurzen Telefonat auf einen Privatlift an der hinteren Seite des Gebäudes. Eine chinesische Sekretärin begleitete Wong zum obersten Stockwerk. Sie sprach Mandarin mit Pekinger Akzent. Ihre Umgangsformen waren nicht ganz so gut wie die ihrer Hongkonger Kolleginnen, aber ihm gefielen ihr Blick und die Art und Weise, wie sie dastand: wie ein Soldat mit leicht gespreizten Beinen, die Hände hinter dem Rücken. Der Sieg war eine Geisteshaltung.
    Xian trug fast die gleichen Farben wie auf Emilys Boot: ein schwarzes Hemd, eine verknitterte Hose und abgewetzte Freizeitschuhe, die auf einem Lederpuff ruhten. Der General zündete sich gerade eine Zigarette an, als Jonathan eintrat. Von der verglasten Cocktailbar aus war der Ausblick viel besser als von Jonathans Büro; er war weiter, höher und beherrschender.
    »Frauen haben alles, nur keine starken Nerven«, sagte Xian. »Sie sind also gekommen, um mein Angebot anzunehmen …«
    Als Xian ausgeredet hatte, erhob sich Wong, verbeugte sich und verließ den Raum.
    Als er wieder in seinem Büro war, sagte ihm seine Sekretärin, daß eine Zusammenkunft mit dem Seniorpartner im großen Konferenzzimmer einberufen worden war.
    Rathbone stand mit gespreizten Beinen und verschränkten Armen vor dem Konferenztisch – wie ein Rausschmeißer in einem Nachtclub, dachte Wong. Ng, Watson und Savile hatten unterschiedliche Positionen in dem großen Raum eingenommen. Ng lehnte an einer hochglanzpolierten Anrichte aus Teakholz gleich neben dem Fenster: Erfolg brachte Sättigung mit sich; der Ausblick auf den Hafen war nicht mehr interessant. Wong sah die Unsicherheit in den Augen der drei Engländer. Ng machte sich weniger Gedanken. Wong schritt zum Kopfende des Konferenztischs, wo er auf einem Stuhl Platz nahm. Die anderen setzten sich neben ihn.
    »Ich komme gerade vom General«, sagte Wong. Watson wandte den Blick ab, Ng nickte voller Respekt, Savile blinzelte, Rathbone starrte seine Hände an. Auf dem Weg von Xian hierher hatte Wong überlegt, wie er das Treffen gestalten sollte. Er hatte mehrere subtile Ansätze erwogen und sie alle wieder verworfen. Allmählich näherte er sich an die Chinesen vom Festland an.
    »Er bietet uns Arbeit an.«
    »Gut«, sagte Rathbone.
    »Ausgezeichnet«, sagte Ng.
    »Wunderbar«, sagte Savile.
    »Sie wissen alle, daß Xian und seine Freunde Hongkong nach dem Juni kontrollieren werden. Das ist jetzt praktisch schon der Fall. Das heißt, daß es sich eigentlich nicht um ein Angebot handelt, sondern um einen Befehl. Der Auftrag, den wir zu erledigen haben, ist ein bißchen unorthodox für eine Anwaltskanzlei.«
    Wong schwieg eine Weile, um den anderen Anwesenden in die Augen zu sehen. Was er sagen würde, konnte sie nicht wirklich schockieren, denn sie waren alle gewitzt. Wahrscheinlich hatten sie sich schon längst einen Reim auf die Situation gemacht. Vielmehr hätte er sich darüber wundern müssen, daß niemand mit seinem Rücktritt drohte. Schließlich waren sie alle schon enorm reich. Der am wenigsten Vermögende von ihnen hatte immerhin mindestens zehn Millionen US-Dollar. Die Gier war ein interessantes Studiengebiet. Besonders die Mittelmäßigen waren anfällig für sie, und sie brachte das Gehirn dazu, sich nicht auf das zu konzentrieren, was man bereits hatte, sondern auf das, was man noch an sich raffen

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