Die letzten Tage von Hongkong
Gemetzel überhaupt nicht dabeigewesen.
In seinem Büro marschierte Chan vor Aston auf und ab und weigerte sich, Fragen zu beantworten. Er strich sich alle paar Sekunden zitternd die schwarzen Haare aus dem Gesicht und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Schließlich nahm er das Sony-Diktaphon aus seiner Schreibtischschublade, steckte es in die Tasche und ging heim.
Eher traurig als verärgert nahm er ein Blatt Din-A4-Papier und schrieb mit schwarzem Kugelschreiber in großen Lettern darauf:
»Sie ist tot, Chan.«
Dann drückte er die einzige vorprogrammierte Nummer an seinem Faxgerät. Er sah dem Blatt dabei zu, wie es seinen traurigen Weg durch das Gerät antrat.
Er holte ein Bier aus dem Kühlschrank, um seine Nerven zu beruhigen, und hatte sich gerade auf das Sofa gelegt, als das Telefon klingelte.
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
Räuspern. »Ein Hubschrauber ist gekommen. Ich habe Schüsse gehört, also bin ich gerannt.«
»Clever.«
»Was ist mit dem Geld?«
»Ich glaube, die werden zahlen. Solange Sie keine Hubschrauber gesehen oder Schüsse gehört haben.«
»Was für ein Hubschrauber? Was für Schüsse?«
»Gut. Und wenn Sie das Geld haben, sollten Sie verschwinden. Das würde zumindest ich Ihnen raten.«
»Klar.« Schweigen. »Ist ’ne große Sache, was?«
»Ja.«
»Sie erinnern mich an die Handlanger der Triaden. Sie befolgen einfach nur Befehle – ohne wirklich zu wissen, woher sie kommen, stimmt’s?«
Chan legte auf, ohne eine Antwort zu geben. » Genau « , sagte er zu der Bierdose. Zwei Biere später fand er die Kraft, sich dem Sony-Diktaphon zuzuwenden.
» Aktennotiz 128/mgk/MK/STC. Dies ist eine Aufzeichnung der Vorfälle, die sich am 17. Mai 1997 gegen elf Uhr vormittags im westlichen Teil der New Territories ereigneten … «
Als er fertig war, fuhr er mit dem Lift ins Erdgeschoß, um einmal um den Block zu gehen. Unten fiel ihm ein, daß er noch nicht in seinen Briefkasten geschaut hatte. Auf einem gefalteten Stück Papier sah er einen Rollstuhl und dazu Anweisungen auf Englisch. Der Terminvorschlag für das Treffen war der 17. Mai, gegen Mitternacht.
ZWEIUNDFÜNFZIG
An asiatischen Grenzen treffen unbewegliche Objekte auf unwiderstehliche Kräfte – und arrangieren sich. Die unwiderstehliche Kraft des Kommunismus hatte sich fast fünfzig Jahre lang mit dem unbeweglichen britischen Kapitalismus auf höchst lukrative Weise arrangiert – vor Margaret Thatcher und der gemeinsamen Erklärung, vor und sogar noch während der Kulturrevolution.
Chan zeigte seinen Polizeiausweis, um die Sicherheitszone im äußersten Nordosten der New Territories betreten zu dürfen. Vom Taxi aus sah Chan die ersten Zeichen: Riesige Mengen Pappkartons unter Wellblechhütten bedeuteten für den Schmuggel das gleiche wie für Marihuana Aluminiumfolie und übergroße Zigarettenpapiere – nicht unbedingt ein eindeutiger Beweis für den Besitz, aber doch ein verläßlicher Hinweis darauf. Kistenschleppende Menschen bewegten sich unter dem grellen Scheinwerferlicht wie Bühnenarbeiter.
Das Taxi setzte ihn ein Stück weiter die Straße hinunter vor einem unbemannten Büro ab. Das, was auf Englisch und Chinesisch darüber stand, nämlich »Zollager«, war mit Sicherheit spöttisch gemeint. Der schwarze Lexus, der am Abschlepphaken eines kleinen Pickup Truck gleich hinter dem Büro hing, schien nur an einer Stelle beschädigt zu sein: Er hatte keine Nummernschilder mehr. Als Chans Augen sich an die Mischung aus grellem Halogenlicht und finsterer Nacht gewöhnt hatten, sah er, daß er mitten in einer Schmugglerstadt stand, die aus Eisenträgern und schrägen Blechdächern gebaut worden war. Transporter warteten mit laufenden Dieselmotoren im tiefen Schatten oder im grellen Licht. Ganz instinktiv schlüpfte Chan in den Schatten, von wo aus er sich diesen riesigen Grenzmarkt ansah. Im chinesischen Teil lagerten hauptsächlich Obst, Gemüse, Baumwollprodukte, daunengefüllte Kleidungsstücke und Eisenwaren minderer Qualität für Küche und Handwerk. In den Hongkonger Unterständen stapelten sich Kartons mit Videorekordern, Fernsehern und Laptops. Händler sahen sich mit ihren rotchinesischen Kunden die neuesten Mercedes-Modelle an, die bei Barzahlung – immer vorausgesetzt, es handelte sich nicht um die offizielle chinesische Währung, den remenbi, den niemand wollte – steuerfrei angeboten wurden.
Trotz der vielen Menschen ging es hier an diesem Handelsort ganz ungewöhnlich leise
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