Die letzten Tage von Hongkong
und Aston traten aus dem U-Bahn-Bereich hinaus in die Menschenmassen und wurden sofort getrennt. Genau wie den Leichen im Bottich fiel es ihnen schwer, sich von den anderen Leuten abzugrenzen; der Strom der Körper verschlang den einzelnen und schwappte über Straßen, Gehsteige, Wege, Keller, Läden, Busse, Autos und Taxis. In der Mittagszeit fielen die Menschen wie Heuschreckenschwärme über die Stadt her, und plötzlich war Chan ein Teil von ihnen. Er dankte Gott für die DNA, den inneren Beweis der individuellen Existenz, obwohl auch Ratten darüber verfügten. Er holte sich Zigaretten von seinem Kiosk und wartete beim U-Bahn-Eingang auf Aston.
Aston reckte den Hals und versuchte, Chan über die Köpfe der Menge hinweg zu entdecken. Sie fuhren zusammen die Rolltreppe hinunter und drängten sich durch die Warteschlangen. Die U-Bahn war das einzige Verkehrsmittel, das zu dieser Tageszeit überhaupt noch von der Stelle kam.
Die Sitzbänke in den Waggons waren aus Edelstahl. Wenn nur einer der Plätze besetzt war, rutschte man vom einen Ende zum anderen, aber das passierte nur selten. Chan und Aston standen eingeklemmt da, jede Bewegung war unmöglich. Nur die Muskeln um die Augen konnten noch zucken. Chan hatte den Kopf ein wenig gehoben und war gezwungen, sich die ganze Zeit den U-Bahn-Plan anzusehen. Die englischen Bezeichnungen hatten den Wettstreit mit den chinesischen verloren: Lai Chi Kok, Waterloo, Diamond Hill, Mongkok, Tsim Sha Tsui, Tsuen Wan, Choi Hung.
Von Admiralty aus gingen sie zu Fuß. Die Menschenmenge drüben auf Hong Kong Island war ein wenig kleiner. Der aus vier Gebäuden bestehende Komplex des Polizeipräsidiums in der Arsenal Street mit den konischen Wachtürmen an den Hofmauern war so etwas wie ein Zauberschloß, in dem Polizisten Zuflucht vor den herandrängenden Massen finden konnten. Dort gab es sogar eine Klimaanlage.
Chan blieb einen Augenblick im Empfangsbereich von Arsenal House stehen. Er hatte um dreidimensionale Gipsbüsten von Polly, Jekyll und Hyde gebeten. Das war teuer, und deshalb hatte er auch nicht damit gerechnet, daß seine Bitte erfüllt würde. Doch das Formular, das er eingereicht hatte, war noch am selben Tag mit der Billigung des Commissioner selbst zurückgekommen.
Er rief Angie an, die Expertin von der Gerichtsmedizin, deren Atelier auf dem Flur lag, wo auch die Spezialisten für Identifizierungsfragen residierten. Dann bat er die Beamtin am Empfang, ihm beim Odontologen anzumelden. Der Zahnmediziner, der nur stundenweise für die Polizei arbeitete und zwei Häuserblocks entfernt seine eigene Praxis hatte, wartete bereits auf sie. Sie nahmen den Lift und gingen zu einer Tür am Ende des Flurs mit der Aufschrift »Regierungslabor«.
Das Labor hatte seinen eigenen Rezeptionsbereich. Zur Auswahl standen Odontologie, Toxikologie, forensische Anthropologie und Serologie. Ballistik und Schußwaffenkunde befanden sich in einem anderen Gebäude. Exotischere Disziplinen wurden zusätzlich von Experten bedient, die nicht in Regierungsdiensten standen und bei Bedarf herangezogen wurden. Das war auch bei der Odontologie der Fall, obwohl das Regierungslabor im Lauf der Jahre in den meisten Arbeitsbereichen eine eigene Abteilung aufgebaut hatte.
Dr. Lam trug einen weißen Kittel, eine dicke Brille und hatte die harten Gesichtszüge eines alten Profis, dem Schmerzen gleichgültig waren. Jedenfalls die anderer Leute. Drei Plastikkiefer lagen auf einer Bank mit Resopaloberfläche. An jedem Kiefer befand sich ein ordentliches rotes Schildchen mit einer aufgedruckten schwarzen Zahl. Eine Kopie von Dr. Lams Bericht lag aufgeschlagen daneben.
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Chan zündete sich eine Zigarette an, bemerkte das Schild, das das Rauchen untersagte, und drückte sie wieder aus. Seine Gesichtsmuskeln zuckten. »Ein toller Bericht, wirklich gut. Er hilft uns sehr. Ich hätte bloß noch ein paar Fragen. Ich meine, wir müssen wissen, in welchem Zustand sich die Zähne befanden – wie nennen Sie das, Dentalprofil? –, bevor die Opfer gefoltert und ermordet wurden. Außerdem müssen wir herausbekommen, auf welche Weise Zähne und Kiefer bei der Ermordung beschädigt wurden.« Chan fühlte sich nie so recht wohl in Gegenwart von Fremden und sah Aston an. »Stimmt’s?«
Aston nickte. »Und die Zahlen. Über die sind wir uns nicht ganz im klaren.«
»Zahlen?« Dr. Lam runzelte die Stirn und blätterte den Bericht durch. »Welche Zahlen?«
Aston holte seine
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