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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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Frauen liebte, begann zu begreifen, und auf das Begreifen folgten Wut und Ekel. Auch Chan konnte ihre Schreie hören, spitze Schreie, die die Mörder dämpfen wollten, indem sie den Opfern etwas Hartes – Holz, Metall oder Plastik – zwischen die Kiefer schoben. Irgendwann wurde der Schmerz dann so groß, daß sie sich die Zähne ausbissen, ohne es zu merken.
    Es war kalt in dem Labor mit der Klimaanlage. Kalt und feucht. Aston, der ziemlich bleich geworden war, sah aus, als erdrückten ihn die Wände. Chan packte ihn am Arm.
    »Gehen Sie rauf. Schnappen Sie frische Luft. Ich komme in einer Minute nach.«
    Als er weg war, nahm Chan einen Kiefer und ließ ihn auf seiner Hand zuklappen.
    »Alle drei?«
    Lam nickte.
    Es war das gleiche bei allen jungen Beamten, die Chan zur Ausbildung bekam. Junge Engländer gingen in den Osten, weil sie Abenteuer erleben wollten. Und verloren ihre Unschuld, jene rosige Unschuld, die in Asien völlig unbekannt war. Östlich von Athen lernten schon die Kinder in der Schule, daß das Leben aus Schmerzen und Leiden, Hunger und Wut bestand. Aber wenigstens war Aston der letzte. Angesichts der Übergabe 1997 hatten die Briten bereits vor zwei Jahren aufgehört, junge Beamte nach Hongkong zu schicken.
    Er fand Aston im Hof, doch er war nicht mehr derselbe Junge wie vorher. Innerhalb von fünf Minuten schien er an Gewicht verloren zu haben und um zehn Jahre älter geworden zu sein. Sein jugendlicher Elan, den alle so charmant fanden, war auf asiatische Härte getroffen und zerbrochen. Die blauen Augen hatten Schwierigkeiten, klar zu sehen, der Mund war verzerrt und die Haut häßlich rot. Jeder hatte seinen wunden Punkt, den es zuerst traf.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ich bin nur ein bißchen zittrig, das ist alles.«
    Chan holte zwei Zigaretten aus der Tasche, zündete sie an und gab eine Aston.
    »Rauchen Sie, das tut Ihnen gut.« Aston nickte mit zweifelndem Blick und nahm die Zigarette. »Wirklich, das beruhigt die Nerven.«
    Er sah dem Engländer zu, wie er inhalierte. Das Nikotin brachte wieder Leben in seine Augen. »Der Zahnarzt ist ein Arsch. Das hätte er nicht machen brauchen.«
    Aston sah Chan an und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel weg. »Danke, Chief.«
    Chan berührte seinen Arm. »Warum warten Sie nicht hier? Ich hole inzwischen die Modelle, wenn sie fertig sind.«
    Aston nickte. Chan hoffte, daß er sich nicht im Hof übergeben müßte. Er selber nahm das nicht wichtig, aber es gab andere chinesische Polizisten, die den Engländer immer wieder daran erinnern würden.
     
    Angie, die australische Expertin für Gerichtsmedizin, hatte ihr Büro im dritten Stock, gleich neben der Abteilung für Identifizierungsfragen. Die Polizisten besuchten sie gern. Sie war nicht schön im herkömmlichen Sinn, aber sie hatte noch etwas Weiches, Weibliches an sich, das man den weiblichen Polizeikadetten meist in den ersten sechs Monaten austrieb.
    Statt eines Schreibtischs, eines Telefons und Akten hatte sie eine Staffelei, Kreide, eine Airbrush-Ausrüstung, Holzkohle, Acrylfarben und viel, viel Tageslicht in ihrem Büro. Sie arbeitete so dicht wie möglich beim Fenster. Unter ihren Händen erwachten die Toten zu neuem Leben; unbekannte Flüchtlinge erhielten Gesichtszüge, die man Augenzeugen zeigen konnte. Und nebenbei zeichnete Angie Cartoons, die die Männer gern ihren Frauen und Freundinnen zu Hause zeigten, als Beweis dafür, daß Polizisten auch Menschen waren.
    In den frühen Tagen seiner Ehe hatte Chan sie überredet, Sandra zu zeichnen. Er hatte die Zeichnung immer noch, weil sie irgendwie viel lebendiger wirkte als alle Fotos. Angie hatte Sandras Augen wunderbar eingefangen: Sie waren groß, westlich, verschlagen und gierig.
    »Ah«, sagte Angie, als sie Chan sah. »Der Mann, der dreidimensional denkt.«
    Chan lächelte. Alle mochten Angie. »Sind sie fertig?«
    »Ja. Allerdings wirst du ein Bier dafür springen lassen müssen. Ich hab’ schon seit Ewigkeiten keine Gipsbüsten mehr gemacht. War ’ne ziemliche Herausforderung. Drei Dimensionen sind einfach was anderes als zwei, das hat bereits Michelangelo gesagt. Ich war schon in der Morgendämmerung hier, um sie fertig zu kriegen. Willst du sie sehen?«
    Angie ging zu einem schweren Lackschrank und holte drei identische Pappschachteln heraus.
    »Dreh dich um.«
    Chan wandte sich zum Fenster und betrachtete eine Skizze auf der Staffelei. Ein Chinese Anfang Vierzig mit tiefem Haaransatz sah ihn stirnrunzelnd an. In einer

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