Die letzten Tage von Hongkong
Bei deiner Hochzeit muß ich ihn übersehen haben.«
»Das ist nicht schwer. Er bleibt nie lang bei solchen gesellschaftlichen Anlässen.«
Emily nahm einen Schluck Champagner. »Er hat so was Animalisches. Erzählt er dir viel über seine Arbeit?«
»Nur, wenn ich ihn lasse.«
»Ist er interessant?«
Wong verzog das Gesicht. »Sag bloß, daß er dir gefällt!«
»Er hat mir erzählt, daß er die Ermittlungen bei den Fleischwolfmorden leitet. Grausig!«
»Möchtest du, daß ich ihn dir richtig vorstelle? Er macht die Angehörigen der verhätschelten Klassen gern mit dem wirklichen Leben bekannt.«
»Ach, so sehr interessiert er mich auch wieder nicht. Aber unheimlich ist das schon, daß man Leute einfach so durch den Fleischwolf dreht.«
»Triaden.«
»Wahrscheinlich.« Sie nahm ein Stückchen eingelegten Ingwer mit ihren Stäbchen und sah sich im Raum um. Dann beugte sie sich vor und flüsterte: »Dann hat dir dein verrückter Schwager also nicht erzählt, wer hinter den Fleischwolfmorden steckt?«
Wong hörte auf zu essen. »Emily, was soll das? Du bist heute so anders. Seit wann interessierst du dich dafür, was Kriminelle treiben?«
Sie seufzte. »Ach, weißt du, je älter ich werde, desto mehr interessiert es mich, wie andere Menschen leben. Dich nicht? Wir sind doch ziemlich behütet, Leute wie du und ich, findest du nicht auch?«
Wong zuckte mit den Achseln. »Du meinst, wir haben zu wenig mit eigensinnigen Fleischwölfen zu tun? Das will ich hoffen. Könnten wir jetzt von was anderem reden? Ich freue mich nämlich auf meine geschmorten Abalonen.«
Emily lachte. Gegen Ende des Essens teilte sie ihm mit, daß diesmal sie zahlen würde. Und sie bestand darauf, die Mahlzeit mit Wongs Lieblingsgetränk, einem Armagnac, abzuschließen.
SECHZEHN
Emily verabschiedete sich im Vorraum des China Club von Wong, um sich auf der Damentoilette frischzumachen. Sie warf einen Blick auf ihre Golduhr von Longines. Es war Viertel vor drei. Sie hatte noch fünf Minuten, um zur neuen Bank of China hinüberzugehen, die bei einer der Hitze angemessenen Geschwindigkeit zehn Gehminuten entfernt lag. Es war nicht schlimm, daß sie ein bißchen zu spät kommen würde, denn über Pünktlichkeit machten sich Kommunisten nur selten Gedanken.
Sie überprüfte ihr Gesicht im Spiegel, glättete die Bluse über ihren schmerzenden Brüsten und fuhr mit dem Lift hinunter ins Erdgeschoß. Am Eingang zum neuen Gebäude der Bank of China zeigte sie ihren Ausweis einem alten Mann, der ins oberste Stockwerk hinauftelefonierte. Dann wurde sie zu einem privaten Lift am hinteren Ende des Gebäudes geführt. Anders als die Aufzüge in dem der Öffentlichkeit zugänglichen Teil hielt dieser nur in einem Stockwerk – dem letzten.
Die Angst krampfte ihr den Magen zusammen. Das Treffen mit Wong war nicht so gut verlaufen, wie sie gehofft hatte. Die Schwangerschaft seiner Frau hatte sie überrascht und es ihr schwergemacht, sich mit ihm über Geld und Morde zu unterhalten. Letztlich hatte sie wenig zu berichten, abgesehen davon, daß Jonathan Wong immer das tun würde, was sie ihm sagte.
Sie trat im obersten Stockwerk aus dem Aufzug. Als Staatsbank war die Bank of China mehr als nur ein kommerzieller Ableger der Volksrepublik. Sie fungierte als Informations- und Überwachungszentrum, das auf seine Weise genauso wichtig war wie die New China News Agency, die die Rolle des chinesischen Konsulats in Hongkong innehatte. Das neue Bankgebäude diente dazu, Kader auf der Durchreise zu beherbergen. Es gab dort eine Sauna, Whirlpools, große Schlafzimmer mit Video und Fernseher, eine vierundzwanzig Stunden am Tag besetzte Küche und eine Cocktailbar mit einem der besten Ausblicke, die Hongkong zu bieten hatte. Und noch besser: Die neue Bank of China war das höchste Gebäude im Central District. Von Anfang an war klar gewesen, daß es den Vertretern der Volksrepublik bei ihren häufigen Besuchen in der verachteten britischen Kolonie an nichts fehlen durfte.
Man führte sie nach oben in die verglaste Cocktailbar auf dem Dach des Gebäudes, wo der alte Mann schon auf sie wartete. Siebzig Stockwerke unter ihnen rasten Spielzeugautos die Connaught Road entlang, und winzige Schiffe ankerten im Hafen. Die reichste Stadt der Erde lag dem Siebzigjährigen, der entspannt auf einem italienischen Freischwinger saß, zu Füßen. Er war der vermutlich reichste Privatmann nach dem Sultan von Brunei, hatte aber ein offenes Hemd, wie man es auf dem Stanley Markt
Weitere Kostenlose Bücher