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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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hinein. Es waren keine Fische mehr da; sie hatten alles gefressen, was zu finden gewesen war. Er klopfte an den Trichter, der ein wäßrig hallendes Geräusch von sich gab. Etwas bewegte sich. Ein Aal schoß aus dem Trichter, flitzte auf Chans Gesicht zu, ein Minimonster mit weit aufgerissenem Maul, und wich im letzten Augenblick aus. Chans Herz klopfte schnell und verbrauchte wertvollen Sauerstoff. Er sah den besorgten Blick seiner beiden Kollegen. Wieder machte er das Okay-Zeichen. Sie nickten langsam.
    Die Taucher wandten ihre Aufmerksamkeit dem Fleischwolf zu. Sie hatten zwei starke Nylonseile mit Edelstahlhaken mitgebracht, die an der Plattform befestigt waren. Chan sah den Tauchern eine Weile zu, wie sie nach einer geeigneten Stelle für die Anbringung der Seile suchten. Dann hielt er den linken Arm auf Augenhöhe, packte das linke Handgelenk mit der rechten Hand und begann, nach einem Blick auf den Kompaß, in Richtung China zu schwimmen.
    In ruhigem Wasser bewegt sich jeder Schwimmer mit jedem Flossenschlag fast genau dieselbe Strecke weiter. Chan wußte, daß er mit dreiunddreißig Flossenschlägen eine Entfernung von sechseinhalb Metern zurücklegte. Nach drei dieser Einheiten war er aus der Sichtweite der anderen Taucher. Er blieb auf dem Grund und folgte der Route, die das Boot vermutlich gewählt hatte. Chan gab sich zehn Minuten. Zwar war das zu lange für den Sauerstoff, den er noch hatte, aber er konnte ja im Notfall die zusätzliche Flasche unter der Schwimminsel benutzen. Auch die Rückkehr zum Boot wäre nicht schwer: Er würde sich an den Seilen entlanghangeln, die sie an dem Fleischwolf anbrachten, oder an den Ankerleinen der Plattform, je nachdem, was er zuerst sah.
    Er wußte nicht, warum er jedesmal beim Tauchen denselben Gedanken hatte: Charlie Chan, dies ist dein Verstand. Genau wie der Verstand brach der Meeresgrund plötzlich unter ihm weg und hinterließ ein Nichts.
    In fünfunddreißig Meter Tiefe hing er etwa einen Meter über der Kante eines unterseeischen Kliffs und schaute hinunter in ein fruchtbares Tal. Mit der Taschenlampe erhellte er einen steilen Abhang, auf dem purpurfarbene Korallen wuchsen. Regenbogenfische schossen zwischen den Korallen hin und her. Weiter unten in der Düsternis bewegten sich größere Formen. In diesen Gewässern gab es Haie, ja, aber die Gefahr, die von ihnen ausging, wurde immer übertrieben. Schlimmer war da schön der schwindende Sauerstoffvorrat. Der Zeiger ging bereits in den roten Bereich. Chan ließ den Strahl der Lampe noch einmal über das Tal schweifen und wollte gerade umdrehen, als er eingeklemmt zwischen dem Kliff und einer grauen Korallenformation einen großen Reisekoffer aus Stahl sah, wie die China-Products-Läden in Hongkong ihn verkauften. Die eine Ecke war ziemlich zusammengedrückt, und ein Großteil der Farbe war durch das Entlangschrammen am Kliff abgegangen. Chan rechnete. Er würde nur ein paar Minuten brauchen, um zu der Ersatzflasche in fünf Meter Tiefe zu gelangen. Er atmete aus, tauchte nach unten ab und beschleunigte mit ein paar Flossenschlägen. Als er bei dem Koffer ankam, bewegte sich der Zeiger an seinem Sauerstoffmesser bereits in die Gefahrenzone.
    Der Koffer war nicht verschlossen, sondern mit grellgrünem Nylonseil zusammengebunden. Als Chan einen Blick auf seinen Tiefenmesser warf, verdoppelte sich sein Herzschlag. Ohne es zu merken, war er auf fünfundvierzig Meter hinuntergetaucht, drei Meter mehr, als für reine Freizeittaucher erlaubt war. Um nicht die Taucherkrankheit zu bekommen, mußte er langsam wieder nach oben steigen und bei bestimmten Tiefen verharren; allerdings erinnerte er sich nicht mehr, bei welchen. Das Problem lag darin, daß er dazu nicht mehr genug Luft hatte. Der Zeiger der Sauerstoffflasche befand sich mitten im roten Bereich. In dieser Tiefe reichte sein Sauerstoff gerade noch für eine Minute. Panik ließ ihn schneller atmen und noch mehr Luft verbrauchen. Charlie Chan, du Narr, da hast du dich in deinem eigenen Verstand verheddert. War das etwas Neues?
    Dreißig Meter schienen ihm eine gute Tiefe für den ersten Halt. Er wartete, bis der Zeiger bei dem schwarzen Strich am hinteren Ende des Gefahrenbereichs ankam, was bedeutete, daß keinerlei Luft mehr in der Flasche war. Mit der letzten Luft, die er noch in der Lunge hatte, schwamm er, so vorsichtig ausatmend wie möglich, nach oben.
    Als er den Kopf wandte, sah er ungefähr zehn Meter rechts zwei Seile im Meer schweben. Er schwamm darauf

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