Die letzten Tage von Hongkong
zu. Der alten Regel Halte nie die Luft an folgend, öffnete er die Schnallen seines Bleigurts und ließ ihn fallen. Jetzt entwich die Luft ungehindert aus seinem Körper, und er trieb an den Seilen, die neben der Ersatzflasche unter dem Boot zusammenliefen, wie ein Korken hoch. Als er dort anlangte, tat ihm die Lunge weh; er war kurz davor, Wasser einzuatmen. Den Bruchteil einer Sekunde zögerte er; fast hätte er der Versuchung nachgegeben, den ungeliebten Charlie Chan der weiten, bitteren See zu überantworten, ihn ein für allemal loszuwerden. Doch dann packte er das Mundstück der Ersatzflasche und labte sich an der Luft, der wichtigsten Nahrung des Menschen.
Er hing fünf Meter unter dem einladenden Heck des Bootes, das im durch die See gefilterten Sonnenlicht hin und her schaukelte, und versorgte sein ausgehungertes Blut mit Luft. Der Schock ließ seine Hände zittern. Der Sauerstoffmangel machte ihn schwindelig. Er konnte sich nicht mehr halten vor Lachen. Die Angst hatte einen Panzer aufgebrochen, den er seit dreiundzwanzig Jahren mit sich herumschleppte. Was hatte er sich da bloß vorgemacht? Er liebte Luft, Licht und Leben!
Er dachte gerade an Moira, als die anderen zu ihm stießen. Sie sahen, daß er zitterte, und überprüften ihn ganz systematisch: Die Sauerstoffflasche war leer; der Bleigurt fehlte; das Herz raste noch immer. Der Tiefenmesser zeigte an, daß er in sechsundvierzig Meter Tiefe gewesen war. Verhalten: hysterisch.
Dann brachten sie eine volle Sauerstoffflasche und zwangen ihn, noch vierzig Minuten unter Wasser zu bleiben, damit er den Stickstoff im Blut abbaute. Als sie ihn dann schließlich an die Oberfläche holten, konnte Chan nicht aufhören zu husten. Er lag an Deck und prustete. Er hatte Glück, daß er nicht an dem Teer aus seiner Lunge erstickte. Irgendwann versuchte er aufzustehen, doch sie erlaubten ihm nur, sich hinzusetzen. Als er schließlich in der Lage war, von dem Koffer zu erzählen, reagierte Higgins völlig unbeeindruckt.
»Sie sollten mit dem Rauchen aufhören«, sagte er nur.
Higgins rief über Funk Hilfe. Er bestand darauf, daß Chan mit dem Boot, das vom Tolo Harbour herbeigeschickt wurde, nach Sai Kung zurückfuhr. Wenn sich Anzeichen für die Taucherkrankheit einstellten, mußte er nach Hong Kong Island geflogen werden, wo die Royal Navy eine Dekompressionskammer hatte.
Higgins versprach Chan, daß sie die Schwimminsel mit Hilfe des Bootes genau neunzehn Meter oder sechsundneunzig Flossenschläge nach Norden verschieben würden, nachdem sie den Fleischwolf heraufgeholt hätten. Das waren weniger als fünfzig Meter zur chinesischen Grenze.
Dort würden die Taucher noch einmal ins Wasser springen, um den Koffer heraufzuholen.
»Haben Sie schon mal jemanden mit Taucherkrankheit gesehen?« fragte Higgins. »Das ist Schmerz pur. Wenn Sie auch nur an einem Gelenk zucken, und sei’s der kleine Finger, kommen Sie in die Dekompressionskammer. Und Sie werden mir dankbar dafür sein.« Er nickte den beiden Sanitätern zu, die Chan auf das andere Boot halfen. »Es hat keinen Sinn, sich wegen ein paar Morden selber umzubringen«, rief er Chan noch nach, als er unter Deck ging.
Konnte die Taucherkrankheit schlimmer sein als der englische Humor? Chan griff nach einer Zigarette. Zumindest würde er es schaffen, pünktlich zu der Verabredung mit Moira zu kommen. Er mußte zugeben, daß er sich darauf freute.
ZWEIUNDZWANZIG
An diesem Abend trug Chan einen weißen Leinenanzug, eine italienische Seidenkrawatte, braune italienische Lederschuhe und ein Seidenhemd, das er sich in Hongkong hatte anfertigen lassen. Moira hatte die Sachen angezogen, die sie am Tag gekauft hatte: ein langes, beigefarbenes Seidenkleid mit feinen malvenfarbenen Streifen, hohe Absätze und einen neuen Büstenhalter. Sie trug genau die richtige Menge Lippenstift und Mascara, aber am besten gefiel Chan ihr Parfüm. Es war dezent, fein, reif. Die Sache mit der Reife war schon eine merkwürdige Geschichte. Seine Exfrau Sandra hatte keine Laster gehabt. Sie hatte kein Make-up getragen, nie ein Verbrechen begangen und keinen Alkohol getrunken. Und er hatte ihr nie voll vertraut. Moira hingegen war eine Diebin und Lügnerin, und doch hätte er keine Bedenken gehabt, ihr seine dunkelsten Geheimnisse anzuvertrauen.
Das Vertrauen reizte die Libido. Als er auf dem Rücksitz des Taxis neben ihr saß, ließ er die Hand unter ihr Kleid gleiten und versuchte, ihre Brustwarzen zu berühren, doch der neue
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