Die letzten Tage von Hongkong
Büstenhalter war im Weg.
Moira holte seine Hand heraus und hielt sie.
»Was ist heute passiert?«
»Nichts.«
»Nicht der Rede wert?«
»Was soll das heißen?«
»Das ist so ein Spruch in den Staaten. Wenn der Held zum Beispiel von den Schurken überfallen wird und wenn er dann mit ungefähr zwanzig Schußwunden in den Saloon geht und der Sheriff ihn fragt ›Was ist denn mit dir passiert?‹, dann antwortet der Held: ›Ach, nicht der Rede wert‹. Mich würde ja nur interessieren, warum du in regelmäßigen Abständen blaß wirst, sobald du an etwas Bestimmtes denkst. Warum ist dein Zucken im Gesicht ungefähr zwanzigmal stärker als sonst, und warum bist du plötzlich geil wie ein Teenager?«
Chan dachte über eine Antwort nach. Direktheit war in der chinesischen Kultur nicht vorgesehen. Also mußte er an sich arbeiten.
»Weil ich mich heute fast umgebracht hätte und weil ich so verdammt froh darüber bin, noch am Leben zu sein, daß ich bis zum Umfallen mit dir bumsen würde, wenn ich dir nicht versprochen hätte, dich auszuführen.«
Moira sah in den Rückspiegel, um festzustellen, ob der Fahrer etwas mitbekam. Offenbar verstand er kein Englisch.
»Wir könnten immer noch umdrehen und nach Hause fahren. Ich habe nur noch einen Tag hier, und es wäre wirklich schade, wenn wir auch nur ein paar Stunden vergeuden …«
Chan drückte ihre Hand. »Aber ich habe auch Hunger, außerdem könnte ich einen Drink vertragen und würde gern beim Nudelessen dein Gesicht ansehen.«
»Findest du das erotisch?«
»Nein, es ist nur vertraut. Alle guten Beziehungen, die ich je hatte, haben mit einem Nudelessen angefangen.«
»Dann tut’s mir leid, daß wir das Pferd am Schwanz aufgezäumt haben.«
Das Taxi fuhr die Garden Road vom Central District zur Magazine Gap Road hinauf. Abgesehen vom Government House, einem weißen Herrenhaus aus der frühen Kolonialzeit, das sich unter die allgegenwärtigen Wohnblocks duckte, war nichts mehr von dem Hongkong übrig, das Chan als Kind gekannt hatte: keine traditionellen, zweistöckigen chinesischen Häuser mehr mit gelben Wänden und grünen Fensterläden; keine britischen Baracken mehr mit Säulenterrassen, Moskitonetzen und rotgesichtigen Engländern, die, die Füße auf einem Schemel und einen Gin-Tonic in der Hand, The Times lesen; keine chinesischen Mädchen mehr im cheungsam, dem langen Seidenkleid, das bis zum Oberschenkel geschlitzt ist; keine compradors, Taipane und Rikschas mehr: Manchmal fragte er sich, ob er sich tatsächlich an jene alte Welt seiner Jugend erinnerte oder nur darüber gelesen hatte. Doch es war alles hier an diesem Hang passiert, an dem sich jetzt fünfhundert Wohnblocks erhoben, jeder höher als seine Vorgänger gebaut, um einen Blick auf den Hafen zu ermöglichen. Die Aussicht auf den Hafen erhöhte den Wert einer Wohnung um bis zu fünfzig Prozent. Das Bild der Stadt war mit dem Taschenrechner gestaltet worden. Und trotzdem war es hier schön am Abend.
Sie bogen in die Magazine Gap Road ein und fuhren steiler hinauf. Der Fahrer schaltete die Klimaanlage aus, um noch ein paar Pferdestärken zu mobilisieren, und Chan machte ein Fenster auf. Sie befanden sich jetzt auf einer Höhe, in der man den Smog der Stadt nicht mehr roch. Moira atmete seufzend durch.
»Die Luft hier ist so mild. In genau dreißig Stunden werde ich mir nicht mehr vorstellen können, daß ich das hier überhaupt erlebt habe.«
Auf dem flachen Sattel unterhalb von Victoria Peak schaltete der Fahrer die Klimaanlage wieder ein, und im Peak Café führte man sie zu dem Terrassentisch, den Chan vorbestellt hatte; er war klein, rund und aus Filipino-Marmor. Chan bestellte Champagner. Das Café war kein chinesisches Restaurant, obwohl es früher einmal ein Teehaus für Kulis gewesen war, die die englischen Herren und Damen in Sänften die alten Pfade hochgeschleppt hatten. Ein amerikanischer Unternehmer hatte es zu einem schicken internationalen Lokal mit internationalen Preisen und einem der schönsten Ausblicke der Welt umgebaut.
Moira ließ den Blick schweifen. »Wow. Verbringen Hongkonger Polizisten ihre Freizeit immer so?«
Chan preßte die Augen zu Schlitzen zusammen: »Sehl altes chinesisches Splichwolt – zuviel Albeit macht Wong langweilig.«
Moiras Augen blitzten während des ganzen Essens. Chan hatte Nudeln mit Klößchen bestellt, Moira Räucherlachs mit warmem nan und Pesto, dazu kam eine Flasche australischer Weißwein für beide. Chan wollte sie fragen, ob
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