Die letzten Worte des Wolfs
Rathaus. Dort meldete er sich in der Bibliothek an und beschaute sich mit dem Fachwissen, das er im mit Büchern ebenfalls recht gut ausgerüsteten Rathaus von Kuellen erworben hatte, die Sammlung. Sie war erwartungsgemäà gröÃer als die Kuellens, verfügte vor allem über eine recht umfangreiche Auswahl Warchaimer Heimatdichtung und leistete sich von einigen Nachschlagewerken sogar zwei Exemplare, wobei das zweite jeweils eine erweiterte Neuauflage des klassischen ersten war. Rodraeg staunte nicht schlecht, seinen Lieblingsroman Das Schwert im Baum sogar in einer illustrierten Edition vorzufinden; Holzschnitte, in denen die Abenteuer Korengans zwar kantig, aber dennoch anschaulich nachgebildet wurden.
Da sein Husten in einem Leseraum besonders störend gewesen wäre, schob er sich seine drittletzte Pastille in den Mund und setzte sich mit dem hiesigen Exemplar der Bebilderthen Encyclica unserer Thierweltan ein Lektüretischchen. Ohne recht darüber nachzudenken, blätterte er zuerst zum Mammut weiter und betrachtete erneut das mächtige Bild, das auch Cajin zu seiner Zeichnung eines Mammutumrisses an der Haustür inspiriert hatte.
Weshalb ein Mammut? fragte Rodraeg sich erneut. Der Traum, den er in Kuellen geträumt hatte in der Nacht, als Naenn ihn aufsuchte, war seither nicht wiedergekehrt. In einundvierzig Tagen Sklavenhaft keine Spur eines weiteren Mammuts. Was hatte das zu bedeuten: ein längst ausgestorbenes Jungtier auf der Flucht vor schemenhaften Verfolgern? Dann der Abgrund -eine klaffende Spirale aus Schneetreiben und Schwindelgefühl. Rodraeg war der Lösung dieses Rätsels noch nicht einen Schritt näher gekommen. Vielleicht gab es keine Lösung, und ein Traum war nur ein Traum. Aber dennoch: Naenn hatte es auch gesehen â¦
Er blätterte zurück. Unter Flederwesen fand er die Fledersalamander, die auf der Hinreise nach Terrek über sie hergefallen waren. Die Illustration in der Encyclica lieà sie gröÃer und dämonischer wirken als in Wirklichkeit. Der Text jedoch traf es ganz gut: »Einzeln ungefährlich, im angreifenden Rudel jedoch nicht zu untherschätzen.«
Unter Drachen besah er sich einen Bartendrachen, so wie den, den Hellas in der Nähe von Terrek gesehen hatte und den die Einheimischen Iddni nannten. Die Zeichnung zeigte eine freundlich aussehende geflügelte Echse mit Fäden statt Zähnen im Maul, und der Text erläuterte: »Kann gezähmt werden und das Bellen eines Hundes nachthun.«
Rodraeg blätterte weiter zu den mehr als zwanzig Seiten über Fische. Nachdem er die abscheulichen Riesenhaie bestaunt hatte, die fünfzehn Schritte lang wurden und ganze Ruderboote samt Besatzung zermalmen und verschlingen konnten, fand er mehrere Walarten, unter denen die Buckelwale neben den mächtigen Pottwalen die zweitgröÃte Körperlänge erreichten: bis zu zwanzig, Pottwale sogar bis zu fünfundzwanzig Schritt. Rodraeg traute seinen Augen nicht, als er unter Buckelwale als erstes las: Ausgestorben.
Er blätterte nach hinten zum Mammut. Auch dort stand das Ausgestorben, das er immer für bare Münze genommen hatte, bis Migal und Bestar ihm erzählt hatten, daà es dem Hörensagen nach noch mammutähnliche Tiere im Regenwald der Spinnenmenschen gab.
Wie war das möglich? Riban schickte sie schlieÃlich nicht los, um etwas zu retten, was es längst nicht mehr gab ⦠ist dies die letzte Herde von Buckelwalen, die es überhaupt noch gibt, hatte es in dem Auftragsbrief geheiÃen. Die Encyclica war also nicht allwissend. Es gab noch Buckelwale, und ihr Schicksal lag nun in des Mammuts Hand. Möglicherweise lebten sogar irgendwo auf dem Kontinent noch Mammuts. Vielleicht im Land der Affenmenschen, oben im eisigen Norden, wo noch nie ein Mensch gewesen war, der hätte Buch führen können über die Wunder, die es dort zu schauen gab. War die Königin vielleicht letzten Endes auf Mammutjagd? Erklärte dies auf einen Schlag sowohl Rodraegs Traum als auch den rätselhaften Affenmenschenfeldzug?
Doch Rodraegs Gedanken schweiften ab und verloren sich in MutmaÃungen, die mit der greifbar vor ihm liegenden Aufgabe nichts zu tun hatten. Er zwang sich zur Konzentration. Buckelwale. Ausgestorben. Die Zeichnung zeigte einen bauchigen Fischleib mit weiÃen Längsstreifen, einem flachen, mit Beulen übersäten Kopf und kleinen hellen Flossen. Der Text
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