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Die letzten Worte des Wolfs

Die letzten Worte des Wolfs

Titel: Die letzten Worte des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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das Blatt noch hätte wenden können. Von Anfang an hatte er gegen den jüngeren, kräftigeren, gewandteren und geübteren Klippenwälder keine Chance gehabt. Aber womöglich wäre auch alles genauso gekommen, wenn Rodraeg gewonnen hätte. Naenn hätte sich um den Besiegten gekümmert, und dabei wäre es dann passiert.
    Rodraeg döste ein, wachte wieder auf, dämmerte weg, döste. Bestars Schnarchen war bis hier unten zu hören, die anderen schliefen lautlos. Cajin spähte oben aus dem Fenster, die Stirn ans Glas gelehnt. Die Bachmuglocke sang ihr helles Mitternachtsandachtslied. Kurz darauf klopfte es an der Haustür. Rodraeg schreckte hoch. Der erste Gast. Um Mitternacht. Der erste.
    Hastig schlüpfte er in seine Hose, entzündete eine Kerze am Öldocht und eilte aus Cajins Kammer. Cajin bewegte sich oben zur Treppe, um ihm seine Eindrücke mitzuteilen, doch Rodraeg wollte den allerersten Augenblick unverfälscht auf sich wirken lassen. Er fragte nicht, wer da sei. Weit öffnete er mit einem Ruck die Tür.
    Draußen stand ein entsetzlicher Mann.
    Das Nachtdunkel war verdichtet wie Nebel, waberte in Schlieren umher. Der Fremde hatte ein verformtes, fließendes Gesicht und stand krumm und verkantet, als wären seine Gliedmaßen falsch zusammengewachsen. Ein Bettler? Rodraeg versuchte, sich sein Erschrecken nicht anmerken zu lassen, und dennoch wich er instinktiv ein paar Fingerbreit zurück.
    Der Fremde legte den Kopf schief. Ein breitkrempiger Hut verdeckte das Gesicht fast völlig. Es war eigentlich unmöglich, etwas Konkretes zu erkennen, das fiel Rodraeg erst jetzt auf. Der Nebel und die Finsternis hatten ihn getäuscht. Das Gesicht des Fremden war ganz normal, seine Körperhaltung ebenfalls. Rodraegs eigene Kerze blendete ihn.
    Â»Dieses Tier …«, sagte der Fremde mit knarzender Stimme und deutete mit langem Arm auf das Mammut an der Tür, »hat drei Stacheln im Gesicht?«
    Â»Stacheln?« fragte Rodraeg verdutzt und betrachtete das Bild.
    Â»Stacheln – wie eine Biene oder Wespe oder so was?«
    Â»Nein, das sind keine … Stacheln. Das sind zwei Stoßzähne und ein Rüssel. Weshalb fragt Ihr?«
    Â»Ach, nur so, nur so. Ich bin auf der Suche nach jemandem mit Honig auf der Zunge. So jemand ist sicher nicht abgestiegen in einem gewöhnlichen Gasthaus wie dem Durchbohrten Habicht, der Geborstenen Kutsche und den Warchaimer Buben, meint Ihr nicht auch? So jemand müßte woanders sein, wo die Winkel spitz zueinander verlaufen und die Zeit schreit, wenn sie sich stößt. So eins« – er deutete wieder auf das Mammut –»habe ich noch nie gesehen.«
    Â»Die gibt es auch nicht mehr. Ausgestorben.« Rodraeg spürte Cajin fünf Schritt hinter sich die Treppe hinunterschleichen. Er versuchte in den Augen des Fremden zu lesen, aber die waren nicht zu sehen. Vierzig Jahre alt, hätte er geschätzt. Die Kleidung alt und wettergegerbt. Keine Waffen außer einem großen Hammer im Gürtel. Der Mann roch nach Harz, war hager und ausgemergelt. Seine Stimme klang, wie wenn man einen Säbel schleift.
    Â»Ausgestorben«, nickte der Fremde. »Lustig. Aber ich bin’s nicht gewesen. Ausnahmsweise kann ich mal nichts dafür. Ach, eine Frage noch, wenn ich Euch schon so zur Tür gescheucht habe mitten in der Nacht mit nichts weiter an als einer Kerze, einer Hose und einem abergläubischen Hemdlein: Seid Ihr nicht auch der Meinung, daß die Königin zu nachsichtig ist den Bäumen gegenüber?«
    Â»Den Bäumen?«
    Â»Ja, überall! Wurzeln unter jedem Schritt. Laub, unter dem man sich verkriechen kann. Diese Stadt hier ist umzingelt von Bäumen, eingekesselt, möchte man sagen, und in ihr breiten sie sich auch schon aus. Auf dem Marktplatz, dieses Ding – da läuft einem doch ein Schauder über den Rücken. Aber was kann ich schon dafür? Habe ich etwas falsch gemacht? Nichts. Ich bin nur auf der Suche nach einem mit Honig im Haar und einem mehr als stacheligen Bart, das ist schon schwierig genug, man kann sich ja nicht um alles kümmern, nicht wahr? Um alles gleichzeitig, das geht nicht.«
    Â»Das geht wohl wirklich nicht«, antwortete Rodraeg, dem seine Verwirrung deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
    Â»Na, dann nichts für ungut, Kerzenmensch. Ihr habt’s mit Eurem kleinen Lichtchen sicherlich schon schwer genug. Legt Euch

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