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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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ist los?«, wollte George Lincoln wissen.
    »Das sind Heuseile, schaut euch den Durchmesser an.«
    Tatsächlich waren die Stricke nicht dicker als der Durchmesser eines halben kleinen Fingers.
    »Wir sind nicht sicher, ob sie einen Mann aushalten und dann kommt noch der Druck des Wassers hinzu!«, erklärte Emile.
    »Nehmen wir sie doppelt!«, sagte Joseph, legte die Seile sorgfältig aus und warf sie dann hinunter zu Bradley, den er anwies, sie ineinander zu verflechten. Die Schwierigkeit bestand nun darin, das so fabrizierte Seil schräg nach unten zu werfen, und zwar so, dass das Ende in der Nähe Meriwethers zu liegen kam. Der fünfte Versuch gelang dann endlich. Nun aber stellte sich heraus, dass das Seil in der Länge noch gerade ausreichte, aber über keine Reserve mehr verfügte, einen Rest um einen Felszacken zu schlingen.
    »Ach, das geht doch so!«, sagte Bradley. »Wir sind doch zu viert!«
    »Ich bin zwar nur ein Bauer!«, fuhr ihn Emile an, »aber mein Bauernverstand sagt mir, wenn er ausrutscht und dadurch auch nur einer von uns ins Stolpern kommt, dann gibt es eine größere Beerdigung!«
    »Aber wir haben keine andere Möglichkeit, wir müssen es probieren!«, entgegnete sein Bruder und gab Meriwether ein Zeichen.
    Langsam wandte sich nun dieser um, langte nach dem hinter ihm eingeschlagenen Eispickel, fasste den Schaft und zog sich vorsichtig höher. Unter seinen Füßen verschwand prasselnd eine Ladung Steine im Abgrund. Die Rechte griff nach dem Seil, so gut es ging schlang er es über den Unterarm, während er mit der Linken den immer noch im Eis steckenden Pickel umklammerte und verzweifelt versuchte, ihn zu lösen.
    »Lass den blöden Pickel, nimm beide Hände!«, schrie Emile, aber das Tosen des Wassers verschluckte seine Stimme.
    Immer wieder versuchte Meriwether höher zu steigen, rutschte dann aber wieder zurück und beförderte das Geröll unter seinen Schuhen in die Tiefe. Unten kämpfte Meriwether einsam um sein Leben, oben wagten sie nicht zu ziehen, aus Angst, ihn vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen. Alle schrien, brüllten. Zuerst durcheinander, dann im Chor, nachdem die beiden Franzosen noch eine Schnelllektion in Englisch bekommen hatten: »No ice-axe! No ice-axe!«
    Aber Meriwether war auf seinen Pickel fixiert. Er war das Einzige, das für ihn wirklich greifbar war und ihm wirklichen Halt gab. Wieder glitt er zurück, seine Bewegungen wurden immer hastiger, unkontrollierter, panischer. Plötzlich passierte es. Nur Joseph hatte es kommen sehen. Sein Schrei war eins mit dem Ruck, der durch das Seil ging, aber er kam noch rechtzeitig. Mit dem Mut des Verzweifelten hatte Meriwether den Pickel endlich losgelassen, hatte gesehen, wie dieser nun auch den Steinen über die Kante folgte und sich regelrecht nach oben schnellend mit seinem ganzen Gewicht auf das Seil geworfen. Der folgende Stoß zog die Männer nach vorne, ihr Glück war der letztendlich doch noch ausreichende Standplatz, der es erlaubte, mit einem wenn auch nur kleinen Schritt vorwärts den Ruck abzufangen. Die Querung durch das reißende Wasser erwies sich dann doch als einfacher, als sie es sich vorgestellt hatten. Ohne Seil wäre es zwar unmöglich gewesen, aber Emile war ein Stück abgeklettert und hatte ihm bedeutet, sich breitbeinig gegen den Druck zu stemmen.
    Meriwether war vollkommen erschöpft, warf sich, oben angekommen, auf den Boden. Niemand sagte etwas, kein Vorwurf, keine Anschuldigung. Nach ein paar Minuten fing er an zu schnattern, seine Zähne schlugen aufeinander und seine Lippen waren bläulich angelaufen.
    »Da, zieh das an!«, sagte Burr und reichte ihm seine Ersatzhose, während Bradley ein Hemd und seine Jacke spendierte.
    Meriwether erholte sich langsam wieder. »Ich wollte nicht durch den Kamin abklettern und dachte, ich könnte die Wand vielleicht umgehen. Das Eis wurde immer steiler, dann bin ich ausgeglitten, habe mich ein paar Mal überschlagen, kam dann auf dem Bauch zu liegen und konnte den Schwung noch etwas mit dem Pickel abbremsen. Aber das hätte auch nichts mehr genutzt. Mein Glück war ein quer liegender, lediglich armlanger Felsen, auf den ich mit den Füßen gerutscht bin und der mir das Leben gerettet hat. Ein paar Zentimeter links oder rechts vorbei… es war der einzige feste Stein, sonst nur loses Geröll!«
    Unten im Tal der Arve breiteten sich die Schatten, wurden zunehmend länger und dunkler, während sich die Bergspitzen in ein zartes Rosa verfärbten.
    »Geht es?«,

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