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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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vom Dach und jagte sie durch die enge Straße, geradewegs auf Burr zu.
    Stechend fuhr ihm der Geruch billiger Braunkohle in die Lunge und er hielt für einen Moment den Atem an. Ein paar Kinder, die unter Gejohle und Geschrei damit beschäftigt waren, einen Ball aus Stofffetzen in eine Pfütze zu befördern, unterbrachen ihr Spiel und gafften mit halboffenen Mündern den Fremden ungeniert an. Dann begannen sie zu tuscheln, ob der feine Herr wohl aus der vornehmen Villensiedlung drüben käme, aber von dort war bis jetzt noch nie jemand hier gewesen.

    Misstrauisch beäugte die Witfrau Schmidtchen den jungen Herrn, der soeben an ihre Tür geklopft hatte, trocknete umständlich ihre großen Hände an der Schürze ab und schob dann ihr Kopftuch zurecht. Ihr dunkelbraunes Haar war bereits mit ein paar silbrigen Fäden durchzogen.
    »So«, sagte sie dann, ihre hohe Stirn legte sich dabei in feine Falten, »Sie wollen also bei uns wohnen?«
    Hinter ihr lugten neugierig drei Kinder, zwei Buben und ein Mädchen, hervor.
    »Wenn es Ihnen und den Kindern keine allzu großen Umstände macht – gern«, erwiderte er freundlich.
    »Kommen Sie herein und schauen Sie sich das Zimmer erst einmal an. Sicher sind Sie Besseres gewohnt!«
    »Ich habe nur bescheidene Ansprüche!«, entgegnete Burr.
    Die Haustür führte direkt in eine große Wohnküche. Unter der Decke war eine Leine gespannt, an der Wäsche zum Trocknen hing, an der rückwärtigen Wand befand sich ein altersschwacher, gekachelter Herd, von dem schon einige Platten abgebrochen waren und so einen unverstellten Blick auf die Schamottsteine freigaben. In einer Ecke stand ein Tisch mit einer Vase, deren ehemals vermutlich kirschroter Rand nur mehr zu erahnen war. Neben dem Herd führte eine steile Treppe zu einer Luke. Nachdem sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, machte George Lincoln zwischen den Wäschestücken zwei weitere Türen aus.
    »Das ist die Kammer der Buben«, sagte Frau Schmidtchen und schlüpfte behände zwischen den feuchten Tüchern, Hemden und wollenen Strümpfen hindurch.
    Der Raum bot gerade genug Platz für zwei schmale Betten, einen einfachen, kleinen Schrank, einen Tisch und einen Stuhl.
    »Das Bett vom Sebastian können wir in die Küche stellen, der Kleine kann bei mir schlafen«, meinte sie resolut,
    »vorausgesetzt, dass Sie das Zimmer wollen!«
    In Burr stritten die Gefühle. Nicht weil ihm die Kammer zu gering gewesen wäre, sondern weil seine Anwesenheit die Familie zwänge, noch enger zusammenzurücken. Schließlich gab er sich einen Ruck und nickte.
    »Wie lange wollen Sie denn bleiben?«
    »Ich weiß es noch nicht. Wahrscheinlich nur ein paar Tage«, gab er zur Antwort. »Was soll das Zimmer denn kosten? Und kann ich bei Ihnen auch ein Essen bekommen?«
    »Ja, sicher. Fünfzig Pfennig pro Tag?« Sie hob die Schultern und sah Burr unsicher an. »Ist das zu viel?«
    Er lachte. »Nein, siebzig sind eher angebracht! Aber nur, wenn ich für die Mahlzeiten extra bezahle!«
    George Lincoln zog seine Schuhe aus und legte sich probehalber auf das Bett. Wenn er sich ausstreckte, stießen Kopf und Füße an den beiden Enden an, aber er hatte schon unbequemer geschlafen. Die Unterlage, bestehend aus mehreren Lagen übereinander gelegter Tücher und wollener Decken, war zwar hart, aber gerade deshalb ganz nach seinem Geschmack. Als er sich wieder erhob, entdeckte er die Waschschüssel auf einem Hocker am Fußende der Schlafstatt.
    »Ein Handtuch liegt im Schrank, das Wasser müssen Sie in der Küche aus dem Eimer holen!«, sagte Frau Schmidtchen, die seinem Blick gefolgt war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr ein Schneidezahn fehlte und sie ein wenig lispelte. »Ich mach mich mal ans Abendessen!«, meinte sie dann und machte leise die Tür hinter sich zu.

    Burr langte nach seiner Aktentasche und suchte die beiden Briefe von Andrew Dickson White heraus. Sie hatten absoluten Vorrang, denn schließlich hatte er es allein seinem Mentor zu verdanken, dass er hier war. Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit stieg in ihm hoch, wiewohl ihm bewusst war, dass Whites Hilfe und Unterstützung nicht ganz frei von Eigennutz waren: George Lincoln hatte, nachdem ihn White zum Bibliothekar berufen hatte, nicht nur eine Reihe wertvoller Werke angekauft und das oft zu einem Preis, der geradezu lachhaft war, sondern im Lauf der Zeit eine geradezu traumwandlerische Sicherheit entwickelt, wenn es darum ging, den Wert eines Schriftstückes oder Buches

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