Die Liebe der anderen
bringe, sie fliegen für eine Woche auf die Antillen. Ich kriege es schon irgendwie hin, danach noch zur letzten Sitzung meines Theater-Workshops zu gehen. Ich zähle schon auf, was ich den Tag über mache. Heißt das, ich will nicht sterben?«
»Ich frage mich, was mit den Kindern werden soll. Durch die verlorene Liebe wurde ich meiner Mütterlichkeit beraubt. Dennoch liebe ich sie, und sie sind immer noch der lebende Beweis dafür, dass ich nicht geträumt habe. Mein früheres Leben mit ihnen war ein Leben voller Glück. Die Menschen zu verlieren, die uns zeugten, und selber Leben zu schenken, sind die beiden Dinge, an denen wir wachsen. Ich entdecke, dass der Verlust der Liebe ein Schrumpfen bedeutet. Ich werde nie wieder schreiben. Wenn man etwas von sich auf eine Seite bannt, sollte immer ein Höhenflug damit verbunden sein, auch wenn es niemand liest. Als ich Youri, Lola oder Zoé erwartete, sah ich mir nie die Nachrichten an. Ich schwor der Absurdität dieser Welt freiwillig ab. Ich schrieb Gedichte und breitete die Flügel aus. Ich hörte Musik, Jazz, Klavier, Opern, Himmelsgesang. Ich sah mir lustige alte Filme an und lachte viel. Ich betrachtete stundenlang die Natur. Ich habe ein Frühlingskind, ein Sommerkind, ein Herbstkind … Der Winter war nie geplant. Obwohl … Das letzte wäre ein Winterkind geworden.Doch der Winter ist gestorben. Schon wieder so ein Zufall. Keine Zeile mehr, abgesehen von einem Notensystem mit harmonischer Musik. Ich will nicht mehr schreiben. Ich werde dieses Tagebuch beenden, das dem leibhaftigen Glück doch niemals gerecht werden wird. Vielleicht werde ich es mir beizeiten noch einmal vornehmen, wenn das Vergessen kommt, wenn ich eine andere Frau bin, wenn ich darüber hinweg bin, die Liebe verloren zu haben, wenn ich wieder neu liebe. Aber kann man einen Zweiten lieben, wenn man einen Einzigen zu viel geliebt hat?«
Ich bin so in meine Lektüre vertieft, dass ich nicht bemerke, wie Pablo auch die herausgerissenen Seiten zur Hand nimmt, die ich schon gelesen habe. Als ich aufschaue, sehe ich, dass er die Zähne zusammenbeißt. Eine bittere Träne rollt ihm über die Wange. Er steht auf und schlägt mit der Faust gegen die Wand. Er macht mir Angst.
»Warum dieses Schweigen? Was ist das für eine Geschichte mit dem Brief, den sie dir geschrieben hat?« Er nennt sie nicht bei ihrem Namen. »Und das Kind, das du verloren hast? Warum habe ich von all dem nichts erfahren? Warum, Marie? Du sitzt seelenruhig da und erzählst mir von dieser anderen Frau, während ich erfahre, dass ich die Liebe meines Lebens und ein Kind von dir verloren habe … Fast wäre ich in meiner Verblendung mit einer Wahnsinnigen durchgebrannt, die mir etwas vorgemacht hat! Ich will damit keineswegs mein idiotisches Verhalten entschuldigen, aber … Das mit dem Brief verstehe ich nicht! So ein barbarischer Sabotageakt passt nicht zu dieser Frau, oder ich habe wirklich nichts kapiert.«
»Beruhige dich, Pablo, versuch im Jetzt zu leben. Was du gerade gelesen hast, habe ich erst vor zwei Tagen gefunden. Die einzige Marie, über die ich mit dir reden kann, ist die, die du heute an deiner Seite hast.«
»Du bist wirklich unglaublich«, entgegnet er. »
Ich
will es verstehen,
ich
will es wissen!«
Ich antworte ihm, dass er doch im Gegensatz zu mir noch über sein Gedächtnis verfügt, schon das wäre Grund genug, sich nicht länger zu beklagen!
»Du hasst mich, oder?«
Ich muss vorsichtig sein. Vielleicht entscheidet das, was ich jetzt sage, über unsere Zukunft. »Hör zu, Pablo, ich lebe seit ein paar Wochen mit dir, und was ich erlebt habe, war eher angenehm. Was man mir von unserem gemeinsamen Leben erzählt hat, hörte sich an wie das pure Glück. Es war Gold wert, und eins habe ich wiederentdeckt: Die Ewigkeit liegt in jedem flüchtigen Moment der Gegenwart, von dem man meint, er berge diese Ewigkeit. In diesem Heft stehen die schlimmsten Dinge, und sie betreffen nicht nur dich. Es stellt auch mich in Frage, und es zieht diese andere Frau mit hinein. Man könnte sie für einen bösen Geist halten, ein Zündholz, das genau in dem Moment hinzutrat, als wir Dynamit zwischen uns anhäuften.«
Er schüttelt seine Locken, und ich finde ihn rührend in seinem Protest. »Ich verstehe deine Gefühle nicht. Ich an deiner Stelle würde mir sagen: Warum eigentlich er, warum nicht gleich ein anderer, wenn ich schon die zwölf Jahre vergessen habe, die wir miteinander verbrachten und die offensichtlich ein böses
Weitere Kostenlose Bücher