Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
gezeichnet.
»Singeknecht ist fort«, stieß er aus. »Er muss sich ein Pferd geschnappt haben und aus der Stadt geflohen sein. Zuvor hat Meister Miehlke ihn im Angesicht des Herzogs bezichtigt, die Mauer absichtlich über Urban zum Einsturz gebracht zu haben. Das Fundament ist unter der Last der viel zu schweren Stützmauer …«
»Nein!«, schrie Dora auf.
»Pst!«, mahnte Gret, legte den Zeigefinger mahnend über die Lippen und wies mit dem Kopf zum Bett, wo der tote Urban ruhte.
»Ist er …?«, fragte Jörg überflüssigerweise, um jäh abzubrechen und ein Kreuzzeichen vor der Brust zu schlagen. Dann ging er zu Dora, nahm sie behutsam in die Arme. »Schwesterherz, es tut mir so leid.«
»Schon gut.« Unsanfter als nötig befreite sie sich aus der Umarmung. Der Schmerz über Urbans Tod wich einer neuen Angst. Veit galt also gleich als der Schuldige des Unglücks. Da hatte es sich Miehlke mehr als leichtgemacht. Ihr Gespräch mit Veit von letztem Montag lief noch einmal in Windeseile in ihrem Gedächtnis ab. Ausführlich hatte er sie über die veränderte Lage nach Aushub des Bodens unterrichtet, ihr die Anlage eines verstärkten Fundaments und die Notwendigkeit einer dickeren Stützmauer im Kellergeschoss erklärt. Hatte Veit sich doch geirrt? Hätte jemand anderer die Gefahr erkennen und das Unglück verhindern können? Offenbar war entweder das Fundament nicht stark genug oder die Mauer viel zu schwer gewesen. Sie hätte seiner Bitte in jedem Fall folgen und sich das alles vor Ort ansehen müssen. Immerhin hatte Urban ihr die Leitung der Baustelle übertragen. Andererseits aber besaß Veit im Gegensatz zu ihr wirkliche Erfahrung mit Schwierigkeiten wie diesen. Er hatte also genau gewusst, was er tat, als er die Änderungen veranlasste. Ihr wurde flau. »Warum hätte Singeknecht das tun sollen?«, fragte sie bang mehr sich selbst als die anderen. »Warum hätte er meinen Gemahl umbringen wollen? Darauf läuft Miehlkes Anschuldigung doch hinaus.«
»Das, meine Liebe, solltet Ihr besser mit Euch selbst klären.« Plötzlich stand Mathilda in der offenen Tür und sah sie vorwurfsvoll an. Gret und Jörg erstarrten. Dora schnaubte. Das alles war ihr zu viel. Sie sehnte sich nach Ruhe, nach einem langen, erholsamen Schlaf. Kaum hatte sie diesen Gedanken gedacht, sank sie um und gab sich zum zweiten Mal an diesem Tag der grenzenlosen Schwärze hin, die alles um sie her gnädig überdeckte.
Zweiter Teil
(1)
Königsberg und Krakau
Frühjahr/Sommer 1546
1
D oras Hand zitterte, als sie die Tür zu Urbans Studierstube aufstieß. Ein Schwall stickiger Luft schlug ihr entgegen. Rasch eilte sie zum Fenster und riss es auf. Milde Maiwärme strömte herein, die Sonne kitzelte ihr die Nasenspitze. Dora lehnte sich gegen das Fensterkreuz und sog den Frühling tief in sich ein.
Ihr Blick verlor sich im Wipfel der Eiche am Schlossteich. Weiße Wolkenfetzen liebkosten die hoch aufragende Baumspitze. Das tiefe Blau des Firmaments erzählte von einer unendlichen Leichtigkeit fernab des mühsamen Seins auf Erden. Aus dem zweiten Obergeschoss war die uralte Eiche am Südufer des Schlossteichs noch besser zu betrachten als vom Fenster ihres Schlafgemachs ein Stockwerk tiefer. Seit vielen Menschenaltern spendete das kunstvolle Geflecht der Äste mit seinem dichten Blätterwerk eine schattige, ungestörte Zuflucht. Auch Dora hatte diesen Ort der Abgeschiedenheit einmal sehr geliebt. Die unerschütterliche Kraft des Baumes hatte sie oft ermuntert, sich dem Wind des Lebens entgegenzuwerfen, selbst wenn er einem gelegentlich von der falschen Seite ins Gesicht schlug.
Leider aber erinnerte die Eiche auch an jenen unglückseligen Tag vor zwei Jahren, an dem Urban auf der Baustelle zu Tode kam. Einen wunderschönen Moment der Ruhe hatte Dora zuvor noch im Schatten des uralten Baumes gefunden. Damals war sie sich ihrer Schwangerschaft endgültig gewiss geworden und hatte das sachte Rauschen der Blätter über ihrem Kopf als Beweis des immerwährenden Schutzes aufgefasst. Wie hätte sie ahnen können, dass das nur die Ruhe vor einem unerträglichen Sturm darstellte, der seither erbarmungslos in ihrem Herz wütete? Nur wenige Stunden später war das Schicksal einem Orkan gleich über sie hinweggefegt und hatte ihr bis dahin so behütetes Dasein bis in die Grundmauern zerstört.
Aufgewühlt wischte Dora sich die feuchten Augenwinkel. Das Schlimmste an dem Unglück aber war: All ihre Träume und Hoffnungen hatten unter den Trümmern
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