Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
ebenfalls ein vorzeitiges Grab gefunden. Seither hatte sie keinen Zeichenstift mehr angerührt, keinen einzigen Entwurf mehr angefertigt. Zu große Gewissensbisse plagten sie. Veit Singeknecht war aus der Stadt geflohen, von Steinmetzmeister Miehlke bezichtigt, den Einsturz der Stützmauer absichtlich herbeigeführt zu haben. Dabei war sie die verantwortliche Baumeisterin gewesen. Ihr allein war vorzuwerfen, sich nicht rechtzeitig, wie von Veit gewünscht, mit eigenen Augen ein Bild von den erforderlichen Änderungen am Fundament gemacht zu haben. Durch seine Flucht hatte Veit sie von jedem Verdacht entlastet. Sie schloss die Augen, erneut mit den aufsteigenden Tränen kämpfend. Ob sie ihm sein edles Handeln je vergelten konnte? Wenn sie doch wenigstens einmal noch jenes Traumbild vor Augen hätte, mit dem alles begonnen hatte. Nach Urbans Tod und Veits Flucht aber war ihr selbst der Schafgarbentraum nicht mehr als Trost vergönnt.
Laute Stimmen aus dem ersten Stock rissen sie jäh in die Wirklichkeit zurück. Mathilda keifte aufgebracht, Elßlin wimmerte, die kleine Johanna stimmte ins Weinen ein. Dora lauschte, was passiert war. Mathildas hohe Tonlage verriet es rasch. Die inzwischen sechzehnjährige Magd hatte der anderthalbjährigen Kleinen das Naschen einer kandierten Kirsche erlaubt. Natürlich war das der missmutigen Base zuwider. Empört ging sie auf Elßlin los, schickte sie zur Strafe in den Keller. Plötzlich wurde es still im Haus. Leise, schleppend klingende Schritte auf der Treppe verrieten, dass die Magd ihre Strafe folgsam antrat. Kurz darauf jauchzte Johanna entzückt auf. Dora konnte sich denken, wie Mathilda das Herz ihrer Tochter wieder für sich gewonnen hatte – indem sie ihr ihrerseits eine kandierte Frucht reichte. Das Spiel lief inzwischen nahezu täglich ab. Erst schimpfte Mathilda mit Elßlin, weil sie Johanna verwöhnte, nur um dann selbst alles zu tun, was die Kleine wollte. Dora fehlte jedoch die Kraft, dem Kampf der beiden ungleichen Frauen um Johannas Gunst ein Ende zu setzen. Erschöpft wandte sie sich der Studierstube zu.
Dicke Staubschichten bedeckten die Regale, den Tisch und den Sessel. Selbst das schmale Bett, das Vater Wenzel bis zur Rückkehr in das wieder aufgebaute Haus in der Domgasse letzten Sommer als Schlafstätte gedient hatte, war von einer grauen Farbe überzogen. In den Ecken knüpften riesige schwarze Spinnen ihre Netze, allesamt beeindruckende Werke einer monatelangen Ungestörtheit. Dora trat zu den Regalen, stieß mit dem Fuß gegen eine Kiste, die direkt davorstand. Achtlos schob sie sie beiseite und musterte die Bücher im Regal, fuhr mit dem Zeigefinger zärtlich über die Buchrücken. Es waren die letzten Bücher, die Urban in Händen gehalten und gelesen hatte. Als sie darunter den Till Eulenspiegel entdeckte, erfasste sie Wehmut. Behutsam nahm sie den Band aus dem Regal, wischte das verstaubte Schweinsleder mit dem Ärmel ihres schwarzen Kleides ab und schlug das Buch auf. Gleich an den ersten Sätzen blieb sie hängen. Von Tills dreimaliger Taufe zu lesen entlockte ihr ein verträumtes Lächeln. Die trauten Stunden mit Urban in Tapiau fielen ihr ein. Ausgerechnet der Lektüre von Eulenspiegels Abenteuern hatte sie die Versöhnung zu verdanken. Eine Weile überließ sie sich ganz den Erinnerungen an jene beeindruckende Ordensburg mit der üppig ausgestatteten Bibliothek, rief sich Urbans wieder aufgeflammte Verliebtheit ins Gedächtnis. Ein leises Miauen verkündete Mirandas Ankunft. Entschlossen schlug Dora das Buch zu und schaute zur offenen Tür. Stolz verharrte die Katze dort, eine Vorderpfote anmutig in der Luft, den Schwanz steil aufgerichtet, um dann flugs hereinzustürmen und den weiß-braun-roten Kopf mit dem struppigen Fell und den glühenden Bernsteinaugen an Doras Beinen zu reiben. Dora bückte sich, strich ihr zärtlich über den Rücken.
»Immer sucht sie deine Nähe.« Die dürre Renata schlüpfte zur Tür herein, schloss sie und lehnte sich gegen das Holz, als gälte es, lästige Verfolger auszusperren. »Was tust du hier? Warst lange nicht in der Stube.«
»Seit Urbans Tod nicht.« Dora staunte selbst über die verstrichene Zeit.
»Jetzt willst du also aufräumen. Wird auch Zeit.« In den wässrigen Augen der alterslosen Magd flammte ein Leuchten auf. Entschlossen warf sie den Kopf zurück, schüttelte das spärliche farblose Haar dabei auf. Die durchscheinende Kopfhaut offenbarte den mäandernden Zug der blauen Adern. In ihrem
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