Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
den Atem. Renata sprach laut aus, was sie sich selbst kaum einzugestehen traute. Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht. Obwohl die winzige Renata ihr kaum bis zu den Schultern reichte, schaffte sie es, sie in die Arme zu nehmen und sie sacht zu wiegen wie ein kleines Kind. »Keine Angst, Liebes«, raunte sie ihr tröstend ins Ohr. »Von mir erfährt niemand etwas.«
Eine Weile verharrten sie engumschlungen. Aus Renatas Haut und Haaren sog Dora den wohlvertrauten Geruch ferner Kindheitstage ein. Sie genoss den Trost, die treue Seele wieder bei sich zu wissen. Wie gut, dass der Vater wie auch Jörg und Gret ihre Dienste im Kneiphof nicht mehr benötigten und sie bei ihr am Mühlenberg gelassen hatten. Endlich löste sich Renata von ihr und kramte etwas aus dem kleinen Lederbeutel, der an der Kordel um ihren Kittel hing. Es handelte sich um eine braune Glasphiole, wie sie Apotheker und Ärzte verwendeten.
»Gib mir deine Hand«, bat sie und fasste bereits nach Doras Linker, drehte sie so, dass die Handfläche nach oben zeigte. Ehe Dora sichs versah, entkorkte Renata die braune Phiole in ihrer anderen Hand geschickt mit den Lippen und träufelte ihr einige Tropfen einer blauen, öligen Flüssigkeit auf die Innenfläche. Langsam bewegte sie ihre Hand, bis sich das Öl entlang der Lebenslinie verteilte und selbst in die feinsten Risse der Haut eindrang. Gebannt beobachtete Dora, was sich dabei tat. Das dickflüssige blaue Öl schien ihr wie ein Zaubermittel. Sein Duft war sehr aufdringlich, erinnerte an eine bunte Blumenwiese. Nach und nach schwächte sich dieser Eindruck ab, der Geruch wurde zarter. Auf der Hand allerdings entfaltete das blaue Öl erst damit seine ganze Kraft. Schemenhaft entstand ein Bild, das ganz entfernt an eine weibliche Gestalt erinnerte.
»Was ist das?«, fragte Dora verwundert.
Renata lächelte weise, gab ihre Hand wieder frei und verschloss die Phiole, verstaute sie allerdings nicht in ihrem eigenen, sondern in Doras Lederbeutel am Gürtel.
»Erkennst du den Duft? Schließ die Augen und spüre ihm nach. Ich bin sicher, du kommst von allein darauf.«
Dora tat, wie ihr geheißen. Tatsächlich wurde der Geruch allmählich vertrauter. Aus dem zunächst stark blumigen, schwer zu beschreibenden Duft schälte sich langsam eine sehr vertraute, würzige Note heraus. »Schafgarbe!«, rief sie, ohne sich recht zu besinnen, und öffnete die Augen wieder. Erstaunt betrachtete sie das Bild in ihrer Hand, das ihr immer deutlicher eine Frau zu sein schien.
»In der Tat ist das das Öl der Schafgarbe. Fortan sollst du jeden Morgen bei Sonnenaufgang daran riechen, wenn das verschwindende Dunkel der Nacht mit dem Anbruch des ersten Tageslichts seine Vermählung feiert. Diese Stunde ist so blau wie dieses Öl. In ihr begrüßt man das Licht des Neuen und stellt sich den Herausforderungen des beginnenden Tages. Dabei wird dir die Schafgarbe künftig zur Seite stehen. Von alters her hat man ihre Kraft genutzt, um Wunden zu heilen. Wie die einen dieses blaue Öl verwenden, um die Folgen des Kampfes auf dem Schlachtfeld zu kurieren, so nehmen es andere, um die Wunden zu schließen, die das Leben der Seele im täglichen Kampf des Daseins schlug. Vertrau dieser Kraft, wie du auch der weisen Voraussicht der Schafgarbendolde unter dem Kopfkissen schon vertraut hast. Du wirst zu der Stimme vordringen, die tief in deinem Inneren verborgen ist und dir auf den Weg zurückhilft, den dir dein Leben weist. Damit wirst du deinen Frieden wieder finden.«
Sie reckte sich auf die Zehenspitzen, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, drehte sich um und verschwand lautlos aus der Studierstube. Lediglich ein zarter Luftzug, der durch das rasche Öffnen und Schließen der Tür entstand, blieb von ihrem Auftritt zurück.
Verwundert rieb sich Dora die Augen, verteilte dabei von dem blauen Öl auf ihrem Gesicht, spürte das Feuchte auf der Haut. Wieder und wieder betrachtete sie ihre linke Hand, die verwischten Linien der rätselhaften Frau darauf. Hätte sie die nicht vor Augen gesehen, würde sie denken, soeben geträumt zu haben. War das tatsächlich die einfältige, verwirrte Renata gewesen, die gerade so weise über die Kraft der Schafgarbe gesprochen hatte? Woher wusste sie das alles? Noch während Dora darüber grübelte, ahnte sie, wie genau Renata die Wunden ihrer Seele kannte. Dieses Gespür sowie das Wissen um das geeignete Mittel, die Verletzung zu heilen, war eine ganz besondere Gabe. Noch einmal schloss sie die
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