Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
hellen knöchellangen Leinenkittel, den sie statt eines Kleides trug, ähnelte sie mehr einem Geisterwesen denn einem wirklichen Menschen. Zum hundertsten Mal dauerte es Dora, die treue Seele erst im letzten Sommer nach dem Umzug von Vater, Bruder, Schwägerin und deren kleinen Sohn aus dem Löbenichter Tollhaus heimgeholt zu haben. So hatte Renata letztlich mehr als anderthalb Jahre inmitten von Schwachsinnigen und Tollwütigen ausharren müssen. Die Tage verbrachte sie am liebsten allein im Spitzgiebel des Hauses, verkroch sich in die Enge und den Mief der winzigen Stube. Des Nachts aber schlief sie neben einem vollgefüllten Wassereimer direkt an der Eingangstür im Erdgeschoss. Einzig die Feuerkatze Miranda war ihr ein schwacher Hoffnungsschimmer, die furchtbare Brandnacht nicht noch einmal erleben zu müssen, glaubte sie doch fest an den Schutz, den ein Wesen wie sie spendete.
»Hilfst du mir?« Aufmunternd lächelte Dora ihr zu. Sie kam ihr vor wie ein winziges Vögelchen, das die Unbill des Lebens grausam aus dem vertrauten Dasein geschleudert hatte. Sanft legte sie Renata den Arm um die Schultern, fürchtete, das Gewicht ihrer Hand wäre bereits zu schwer für sie. »Es gibt viel Arbeit. Hol Besen, Lappen und einen Eimer Wasser. Am besten entfernst du erst die Spinnweben in den Ecken, dann putzt du die Fensterscheiben. Währenddessen schaue ich die Papiere auf dem Schreibpult durch.« Entschlossen krempelte sie sich die Ärmel ihres Trauerkleides auf, steckte das dunkelblonde Haar unter die Haube. Die Hände in die Hüften gestemmt, wartete sie, bis Renata sich ebenfalls rührte. Als die Magd die Hände hinter dem Rücken hervorholte und ihr entgegenstreckte, lagen einige Stengel Schafgarbe darauf. Der würzige Geruch der kleinen, weißen Dolden stieg Dora sofort in die Nase. »Nein! Erspar mir bitte dieses Kraut! Es hat genug Unheil angerichtet.«
»Wieso?« Verständnislos schaute Renata zwischen ihr und der Schafgarbe hin und her, bettete die mit winzigen weißen Blüten bestückten Dolden schließlich aufs Fensterbrett. »Niemals bringt die Schafgarbe Unheil. Gerade für Menschen, die wie du am Tag des heiligen Theobald geboren sind, ist sie das Heil aller Schäden. Diese Stengel hier habe ich übrigens nicht vom Grab eines Jünglings gepflückt. Auch sollst du sie dir nicht mehr des Nachts unters Kopfkissen legen, denn …«
»Woher weißt du, dass ich …?«, fiel Dora ihr aufgebracht ins Wort. Sie war sich sicher, der alten Magd weder von ihrem schicksalhaften Traum noch davon erzählt zu haben, dass ihr der Liebste kurz darauf in Gestalt von Veit Singeknecht leibhaftig gegenübergestanden hatte. Renata hob die knochige Hand, strich ihr zärtlich über die Wange. Dora fühlte, wie sie errötete. Renata lächelte verschmitzt. Auf einmal hatten sich die Rollen zwischen ihnen verkehrt. Renata war nicht mehr das zarte, schutzsuchende Wesen und Dora die Starke. Jetzt war es wieder genau so, wie es seit dem frühen Tod der Mutter immer gewesen war. Die Magd spendete ihr Schutz.
»Mach dir keine Sorgen, Liebes«, beruhigte Renata sie. »Ich weiß, was ich weiß, und ich weiß, ob ich etwas sagen soll oder nicht. Doch hab keine Angst, selbst wenn ich mich einmal verplappere, wird mir kaum noch einer Glauben schenken. Es hat eben seinen Vorteil, wenn die Menschen bereits das Urteil über einen gefällt haben und in einem nur noch die Verrückte sehen.« Ihr Schmunzeln wurde regelrecht schelmisch. Die hellen großen Augen strahlten mit der Frühlingssonne vor dem Fenster um die Wette. Eine ganz eigene Schönheit wohnte ihrem ausgemergelten Antlitz inne. Dora wurde warm ums Herz. »Deinen Liebsten hast du also längst geschaut. Damit kannst du dir die Probe für alle Zukunft sparen. Die Schafgarbe ist wahrhaftig und wird dir auch beim zehnten oder zwanzigsten Mal keinen anderen als beim ersten Mal vor Augen führen.«
»Mein Gemahl ist schon seit zwei Jahren tot. Damit ist meine Liebe ein für alle Mal zu Grabe getragen.«
»Mach dir nichts vor.« Renatas Stimme klang fest, ihre riesigen Augen blickten klar und weise, die eingefallenen Wangen gewannen an Farbe. Auf einmal wirkte sie groß und stark, packte Dora am Handgelenk und sah sie eindringlich an. »Wir beide wissen, dass dir die Schafgarbe jemanden gezeigt hat, der in der Blüte seines Lebens steht. Vertrau darauf. Sie irrt sich nie. Du bist noch jung. Vor dir liegt noch ein ganzes Leben voller Liebe und innigster Zuneigung.«
Dora verschlug es
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