Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Sessel vor dem schmalen Bett und ließ sich darauf nieder. Bereits die ersten Zeilen raubten ihr den Atem. Eine zaghafte Ahnung beschlich sie, dass Göllner sich schwarzärgern würde, sollte er je von ihrem Fund erfahren. Er hatte die Truhe in Händen gehabt und hätte den Schatz heben können, ohne dass sie je etwas davon mitbekommen hätte. Wahrscheinlich hatte er sogar verbittert danach gesucht und es schließlich aufgegeben. Atemlos las sie weiter.
Die Aufzeichnungen begannen mit Urbans ersten Jahren im Deutschen Orden. In knappen Sätzen schilderte er, wie er mit siebzehn Jahren als Sohn eines wohlbetuchten Nürnberger Ratsherrn in den Dienst des Deutschen Ordens eintrat. Offenbar sorgte eine entsprechend hohe Geldzahlung seines Vaters dafür, ihn sogleich dem kaum vier Jahre älteren frisch bestallten Hochmeister Albrecht als eine Art Kammerdiener beizugesellen. Das war Urbans großes Glück. Vom ersten Tag an waren sie mehr als Dienstherr und Untergebener, entdeckten früh schon gemeinsame Interessen und schlossen eine Jahrzehnte währende Freundschaft. Da er nicht von edlem Geblüt, sondern nur von bürgerlichem Stand war, blieb Urban im Orden lediglich die Laufbahn eines Graumäntlers. Zum Dienst an der Waffe fühlte er sich wenig berufen, also beschäftigte er sich eifrig mit rechtswissenschaftlichen Studien, weilte dafür sogar auf Anregung Albrechts einige Jahre an den Universitäten in Bologna und immer wieder in Krakau. Zu der Zeit tauchte ein elf Jahre jüngerer neuer Kammerherr in Albrechts Nähe auf – Egbert Göllner aus Prag.
Dora stutzte, las noch einmal, schaute grübelnd zum Fenster. Bislang war sie der festen Überzeugung gewesen, Göllner stamme wie Urban aus Nürnberg. Offenbar aber verknüpfte sich mit seiner böhmischen Herkunft etwas Rätselhaftes. Warum sonst verschwieg er sie so geflissentlich? Als sie umblätterte, um mehr zu erfahren, sprang ihr ein weiterer sehr vertrauter Name ins Auge – Veit Singeknecht! Das konnte nicht sein. Sie blätterte zurück, überflog noch einmal die ersten Abschnitte. Nein, sie hatte sich in der Zeit nicht getäuscht. Bislang drehten sich die Aufzeichnungen um die Jahre, die Albrecht nach dem Waffenstillstand mit Polen in Nürnberg weilte. Damals war er mitten in die Religionskämpfe geraten, hatte Osiander kennengelernt und einen Briefwechsel mit Luther begonnen, wie Urban stolz notiert hatte. Veit aber war viel zu jung, um in jener Zeit mit Urban, Göllner sowie dem späteren Herzog Albrecht von Preußen zusammenzutreffen. Dora rechnete und rechnete, bis sie wenige Zeilen später auf des Rätsels Lösung traf. Veits Vater trug denselben Namen wie er. Er selbst wurde 1520 geboren. Das erwähnte Urban beiläufig am Rande. Die Begegnung mit dem kleinen Knaben musste ihn erstaunt haben, weil er bereits im zarten Alter von vier Jahren schreiben und hervorragend zeichnen konnte. Neugierig las Dora weiter, um bald eine nie gekannte Beklemmung in sich aufsteigen zu spüren. Wieder musste sie innehalten, die Hände mit dem Heft erschöpft in ihren Schoß sinken lassen und zum offenen Fenster hinüberstarren.
Was an Urbans Totenbett als erste Ahnung aufgetaucht war, wurde dank seiner frühen Aufzeichnungen bittere Wahrheit. Er hatte schon einmal geliebt, mit Leib und Seele geliebt, und diese tiefen Empfindungen für jene frühe Liebe hatten ihn bis in seine letzten Atemzüge auf Erden begleitet. Kein Wunder, dass ihm Grets bernsteingoldenes Haar wie eine Verheißung längst vergangener Glückseligkeit erschienen war, erinnerte ihn das doch an jene Liebe. Eine Träne stahl sich in Doras Auge. Verschämt wischte sie sie weg, schluckte und versuchte sich ganz auf das Leben vor dem Fenster zu konzentrieren. Endlich hatte sie sich so weit gefasst, um weiterlesen zu können.
Ihre Finger zitterten, als sie das Heft von neuem aufblätterte. Auf Anhieb sprang ihr dieses Mal der Name Göllner ins Auge. Plötzlich wurden Urbans eben noch so klare Schilderungen wirr, rätselhaft und unvollständig. Dora begriff lediglich, dass er Urban und jener Frau eine schreckliche Schmach zugefügt haben musste, doch nicht etwa aus Liebe, sondern aus Rache. Was hatte Urban Göllner angetan, dass jene Frau für ihn büßen musste? Dora meinte Urbans Schmerz am eigenen Leib zu spüren, den Blick seiner hellen, verzweifelten Augen genau vor sich zu sehen. Ein Mann wie er blieb sich zeit seines Lebens seiner Verantwortung bewusst. Neben Albrechts Namen tauchte in den nächsten
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