Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Zeilen mehrmals auch derjenige von Veits Vater auf, Rechtssätze wurden erwähnt, mögliche Folgen bestimmter Handlungen erörtert, was Dora weiter durcheinanderbrachte. Jäh brachen die Aufzeichnungen ab. Erschöpft ließ Dora das Heft sinken.
Urban und Göllner hatten einander seit jenen Tagen gehasst. Kein Wunder, dass Göllners Ankunft in Königsberg vor zwei Jahren Urban derart aufgewühlt hatte. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, ihn je wiederzusehen, am allerwenigsten in Diensten des Herzogs. Mehrmals hatte sie heftige Auseinandersetzungen der beiden in der Wohnstube mitbekommen. Der Überfall im Wald der tanzenden Bäume fiel ihr ein. Danach war Ruhe eingekehrt. Sie dachte an das Zögern des Herzogs, Urban das versprochene Grundstück zuzuteilen. Bis er schließlich jenes verhängnisvolle, sumpfige am Ende der Junkergasse erhalten hatte. Ob Göllner dahintersteckte, der alten Geschichte in Nürnberg wegen? Veit hatte gleich etwas in der Richtung vermutet. Die Kehle wurde ihr eng. Aus unerfindlichen Gründen schien auch er oder vielmehr sein Vater in diese lang zurückliegenden und dann wieder aufgeflammten Zwistigkeiten verstrickt.
Sie schaute zum Fenster, suchte einen trostspendenden Halt für ihren Blick, fand ihn endlich in dem sacht im Wind hin- und herwiegenden Wipfel der alten Eiche am Schlossteich. Die schwanenweißen Wolken auf dem tiefblauen Himmel verwandelten sich in menschliche Gestalten, aufgeblasene Tiere, verzerrte Gebäude. Nach und nach lösten sich die Konturen wieder auf, wurden wieder harmlose Wolkentupfen.
Das Schlagen der nahen Turmuhr verkündete die Mittagsstunde. Dora war, als erwachte sie aus einem seltsamen Traum. Mehr und mehr drangen die Geräusche der Straße sowie des Platzes vor dem Eingang zum Schloss zu ihr durch und lösten die unheilvolle Stille ab, die sich beim Lesen über ihr Innerstes ausgebreitet hatte. Unwillkürlich glitten ihre Finger zu dem Lederbeutel an ihrem Gürtel, tasteten nach der Phiole. Als sie das kalte Glas fühlte, wurde ihr wohler. Sie hatte sich nicht geirrt. Renata war also tatsächlich da gewesen und hatte ihr das Fläschchen zugesteckt. Flink entkorkte sie es. Sogleich schlug ihr der aufdringlich krautige Duft entgegen. Sie träufelte sich einen Tropfen des blauen Öls auf die Handinnenfläche und bewegte sie vorsichtig in verschiedene Richtungen, bis das Öl seinen Weg in die Falten und Ritzen der Haut fand. Von neuem nahm es die Umrisse jener geheimnisvollen, zutiefst vertrauenswürdigen Frauengestalt an. Der Krautgeruch schwächte sich ab, wich dem vertrauten blumigen Duft der Schafgarbe. Tief atmete Dora ihn ein. Als saugte sie damit auch die Kraft des Krautes in sich auf, wurde sie sogleich ruhiger, gelassener und empfand bald einen inneren Frieden.
Dank der Aufzeichnungen rückte Urban ihr ein gutes Stück näher. Schon an seinem Sterbebett war ihr klargeworden, wie viel ihm seine ungestüme Liebe in Nürnberg bedeutet haben musste. Das Schicksal hatte ihn früh von ihr getrennt, hatte ihm lediglich die Erinnerung an ihr wundervolles Haar wie eine Verheißung höchsten Glücks bis zum letzten Atemzug bewahrt. Kurz streifte sie dazu ein weiterer Gedanke, der mit ihrer Schwägerin Gret zusammenhing. Wie so oft in den letzten beiden Jahren aber verbannte sie den sogleich wieder aus ihrem Kopf und konzentrierte sich ganz auf das Naheliegende. Urban hatte also tatsächlich schon einmal sehr geliebt, wie seine Aufzeichnungen bewiesen. Wer, wenn nicht Dora, konnte ihm nachempfinden, wie es war, im Angetrauten die Erinnerung an eine unerreichbare Liebe zu suchen? Die Erkenntnis, dass Urban und sie in der gleichen Lage gewesen waren, entlockte ihr ein befreites Auflachen.
Zugleich aber wuchs die Furcht vor Urbans letztem Geheimnis. Was war damals in Nürnberg geschehen, weswegen Göllner Urbans Liebe zerstört hatte und zwanzig Jahre später noch zu tödlicher Rache imstande war? Und was hatte Veit Singeknecht damit zu tun? Dora beschlich das unangenehme Gefühl, dass die Wahrheit alles andere als erbaulich sein würde. Warum sonst hatte Urban nie darüber geredet? Trotzdem wollte sie dem Geheimnis auf den Grund gehen. Ein erster Ansatz würde sich bestimmt in Urbans Chronik aus den Königsberger Jahren finden. Vermutlich setzte sie kurz nach seiner Ankunft am Pregel anno 1525 ein, also wenige Monate nach den Vorfällen in Nürnberg. Entweder hatte er damals noch einige Worte über die Ereignisse in Nürnberg verloren oder sie anlässlich
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