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Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Titel: Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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wieder vor Augen, roch den Staub, der in den trockenen Seiten hing, sah Urbans akkurate Schriftzüge, mit denen er wichtige und weniger wichtige Ereignisse in Stadt und Herzogtum darin notiert hatte.
    Einige Formulierungen hatte sie beim heimlichen Durchblättern aufgeschnappt: »erste Begegnung mit der wahren Liebe«, »selige Verzückung« sowie »bittere Erfahrung«. Wie gut hatte das auf ihre damalige Lage gepasst! Eine Träne kullerte ihr die Wange hinunter. Sie wischte sie beiseite und meinte jenen Nachmittag des bangen Wartens im Frühjahr 1544 von neuem zu durchleben, an dem sie den Band in Händen gehalten hatte. Mit mehreren Tagen Verspätung war Urban damals in einer seltsam kühlen, zurückhaltenden Stimmung von der Inspektionsreise nach Labiau zurückgekehrt. Die anschließende Nacht, in der sie sich mit ihm hatte versöhnen wollen, hatte in einer entsetzlichen Schmach geendet. Ausgerechnet im innigsten Moment ihrer Zweisamkeit war ihr Veits Name entschlüpft. Obwohl das nicht mit Absicht geschehen war und sie weiterhin zweifelte, ob Urban den Namen überhaupt verstanden hatte, schämte sie sich bis zu diesem Tag dafür. Was also, wenn sie gleich jenen Band in dem Geheimfach fand, der ihr verraten würde, ob Urban ihre Untreue geahnt hatte? Sie sollte alles belassen, wie es war. Vermutlich wusste niemand etwas von dem Geheimfach. Es war sehr geschickt eingebaut. Göllner mochte es übersehen haben, weil ihm der Blick dafür fehlte, das Äußere und Innere der Kiste in eins zu bringen.
    Langsam richtete sie sich auf, knetete ihre langen schlanken Finger. Sie waren eiskalt. Dabei meinte sie auf ihrer Stirn Schweißtropfen zu spüren. Sie wischte sie fort, atmete mehrmals tief durch.
    Die ganze Zeit behielt sie die Truhe im Blick. Es handelte sich um eine sehr schlichte Schreinerarbeit. Die Bretter aus Eichenholz waren dunkel gebeizt. Um für eine höhere Stabilität zu sorgen, waren sie gegeneinander verleimt worden. Es fanden sich nur wenige Astlöcher darin, was auf eine sorgfältige Auswahl der Holzstücke schließen ließ. Durch das mehrmalige Einölen wirkte die Oberfläche wie poliert. Wahrscheinlich war die Truhe schon mehrere Jahrzehnte alt, was für ein weiteres Abdunkeln des Holzes gesorgt hatte.
    Doras Finger zitterten, als sie von neuem versuchte, eine Ritze zu finden, um den doppelten Boden anzuheben. Vergebens. Hastig kramte sie nach dem Besteckkasten an ihrem Gürtel, öffnete ihn und nahm das Messer heraus. Flink fuhr sie mit der Klinge an der Bodenritze entlang. In wenigen Handgriffen hatte sie es geschafft. Der Boden löste sich, und das geheime Fach lag vor ihr. Sie staunte. Statt des erhofften Oktavbands von Urban enthielt es mehrere Bündel loser Papiere, die jeweils mit einer Schnur zusammengebunden waren. Sie nahm sie heraus, betrachtete sie von allen Seiten und überflog die ersten Zeilen. Offenbar handelte es sich um Briefe, die Urban vor langer Zeit aus seiner fränkischen Heimatstadt Nürnberg erhalten hatte. Die braune Tinte war stellenweise arg verblasst, was das hohe Alter der Papiere erklärte. Auf einem der Bündel überdeckte ein dicker Fleck das Geschriebene. Er ähnelte einem Fettfleck. Vielleicht aber war auch Wachs darauf getropft, das jemand anschließend behutsam abgekratzt hatte. Dora beschloss, die Briefe später in Ruhe zu lesen. Etwas über die ihr völlig unbekannte Vergangenheit Urbans aus seiner Zeit vor Königsberg zu erfahren, schien ihr sehr reizvoll.
    Ein letztes Mal griff sie in die Kiste, wollte sich lediglich vergewissern, dem Geheimfach alle Papiere entnommen zu haben. Zu ihrer Überraschung aber ertasteten ihre Finger ein dünnes Heft. Sie nahm es heraus und hielt ein sorgfältig in dunkelbraunes Leder eingeschlagenes Schreibheft aus wenigen Bogen Papier in Händen. Die Seiten waren mit Fadenheftung gebunden. Neugierig blätterte sie das Heft auf und staunte. Wenn auch die Schriftzüge noch etwas ungelenker, zuweilen unordentlicher waren, so erkannte sie doch auf Anhieb Urbans Schrift. Das Papier war rauher und damit billiger als bei den anderen Schriftstücken, was ebenfalls zur Ungleichmäßigkeit der Buchstaben beigetragen hatte. Vielleicht aber wies die wenig sorgfältige Linienführung auch darauf hin, dass die Aufzeichnungen in großer Hast erfolgt oder von noch ungelenker, jugendlich-ungestümer Hand verfasst waren. Noch während sie sich aus der unbequemen Haltung auf dem Boden erhob, begann sie zu lesen. Blind tastete sie nach dem hölzernen

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