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Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Titel: Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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weise Fügung! Seither steht unser Land in neuer Blüte. In allen Winkeln entfaltet sich Gewaltiges. Das, meine Lieben, erscheint mir das eigentliche Wunder an der ganzen Geschichte, das letztlich durch den Abprall der polnischen Kugeln im Jahre 1410 eingeläutet wurde.«
    »Warum aber erzählt Ihr dann überhaupt von der geheimnisvollen Kraft der Marienfigur?« Aufmerksam hatte Dora die langen Ausführungen verfolgt. »Luthers Lehre zufolge gibt es eine solche nicht.«
    Das stumme Nicken von Clas Tönnies, das sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, bestätigte sie. Kaufmann Steinhaus, der ihr schräg gegenübersaß, wirkte erleichtert, wie das umständliche Wischen seiner schweißnassen Stirn bewies. Selbst die Base, die zwischen Steinhaus und Polyphemus auf einmal regelrecht eingezwängt wirkte, kam nicht umhin, ihr dankbar zuzunicken.
    »Das, meine liebe Stöckelin, geschah einzig aus dem Wunsch, Eure Wissbegier zu stillen.«
    Vergnügt zwinkerte der Bibliothekar ihr zu, nicht im mindesten getroffen von ihren Worten. Mit einer weit ausholenden Armbewegung wies er auf den Anblick, der sich nach wie vor durch die vordere Öffnung der gewachsten Leinenplane bewundern ließ. Einhellig richteten alle ihre Blicke wieder dorthin, empfanden wohl ähnlich wie Dora die Aufforderung als willkommene Gelegenheit, sich ein eigenes Bild von dem eben Gehörten zu machen.
    7
    Ü ber den gelbroten Himmel zogen veilchenfarbene Schlieren, die der untergehenden Sonne ein wenig von ihrer Glut nahmen, was wiederum die Farbe der Backsteine an der Marienburg in ein dunkleres Licht tauchte. In der anbrechenden Dämmerung trat die strotzende Wehrkraft der Burganlage umso deutlicher hervor. Auf einem der Türme blies ein Wachmann die Trompete, vor den Toren vermehrte sich das Gedränge. Der Fuhrmann trieb seine beiden Zugochsen kräftiger an. Die bewaffneten Begleiter des Kaufmannszuges gaben ihren Pferden die Sporen und eilten den Wagen voraus, um ihre Ankunft zu vermelden. Gebannt folgte Dora ihnen mit den Augen, wurde erst in diesem Moment der Stadt richtig gewahr, die sich an die südlichen Burgmauern anschloss.
    Der Kirchturm der Johanniskirche, die Laurenz Selege in seinen Aufzeichnungen mehrfach beschrieben hatte, überragte ein buntes Meer aus Giebeln, Zinnen und kleineren Türmen. Der alles überragende Feuerball der Sonne brachte die roten Ziegelsteine und -dächer zum Glühen, gelegentlich blinkten Wetterfahnen auf den Spitzen, dazwischen entzündete sich goldenes Licht in den Fensterscheiben. Selbst wenn der polnische König sich in seiner preußischen Residenz nur selten sehen ließ, gedieh die Stadt Marienburg aufs prächtigste und wusste sich als Sitz eines mächtigen Woiwoden einen besonderen Status im Lande zu bewahren.
    »Gewiss habt Ihr das berühmte Werkmeisterbuch Eures Urahns Laurenz Selege im Gepäck«, wandte sich Polyphemus nach einer längeren Pause wieder an Dora. Sie errötete und presste das Felleisen, das sie bei sich auf dem Schoß bewahrte, eng gegen den Leib. Aufmunternd zwinkerte Polyphemus ihr zu. »Er wird die Wundergeschichten von der Madonnenfigur ebenso gekannt haben wie ich. Erwähnt er auch die Steinkugel, die bis heute in der Wand des Sommerremters steckt und seinerzeit ebenso vergeblich von den polnischen Belagerern abgegeben wurde wie der Schuss auf die Madonna?«
    »Wundergeschichten stehen also darin! Wenn das mein armer Vetter gewusst hätte«, mischte sich Mathilda ein, ehe Dora antworten konnte. »Nie und nimmer hätte er geduldet, dass Ihr dieses Buch so eifrig studiert.«
    Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Steinhaus schaute sie befremdet an, während Polyphemus’ Grinsen breiter wurde.
    »Aber, aber, meine Liebe.« Sacht tätschelte er Mathildas Arm. »Dass der Urahn unserer lieben Stöckelin die alten Wundergeschichten aufgeschrieben hat, beweist einmal mehr, wie ausgiebig er sich mit den Bauwerken beschäftigt hat. Alles wollte er über sie wissen. Ranken sich erst einmal Legenden um die Kunst, beweist das letztlich nur das ohnmächtige Staunen, das ihre Betrachtung bei den gemeinen Leuten hervorruft. Wie anders als mit Wundern lassen sich solch außergewöhnliche Leistungen erklären?«
    »Das ohnmächtige Staunen vor solchen Meisterwerken ist nicht nur eine Sache der einfachen Leute«, pflichtete Dora bei. »Bis heute versinken auch wir in tiefster Bewunderung, wenn wir solcher Leistungen ansichtig werden.«
    »Anders als die gemeinen Leute aber sind wir uns bewusst, dass die

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