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Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Titel: Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Blicke gedankenverloren ineinander. Mit einem Mal gewahrte Mathilda darin den Abgrund, an dem sie selbst gerade stand. Reckte die Magd das Kinn, war ihr ein gewisser Hochmut zu eigen, letzter Überrest einer besseren, unbeschwerteren Zeit. Mathilda erschrak. Nach Urbans Tod mochte es nur eine Frage von wenigen Jahren sein, bis auch sie sich als Magd in einem Gasthaus verdingen musste. Heiratete Dora ein zweites Mal, wäre sie ihrer im neuen Haushalt gewiss schnell überdrüssig. Unruhig knetete Mathilda ihre Finger. Das herzhafte Gähnen der Altersgenossin offenbarte einen zahnlosen, dunklen Mund. Die Fäule daraus wehte bis zu Mathildas Bank. Angewidert erhob sie sich von ihrem Platz und lief zur Tür. Die Wirtin rief ihr etwas nach, doch sie schenkte dem keinerlei Beachtung. Sie musste hinaus an die frische Luft, um sich wenigstens für kurze Zeit noch des kleinen Glücks der Freiheit zu erfreuen.
    Die Morgensonne blendete sie. Schützend legte sie die flache Hand an die Stirn, richtete mit der anderen den Sitz der Bundhaube auf dem streng zurückgekämmten braunen Haar. Sie wandte sich nach links, dem Markt zu. Dort erwachte gerade das Leben. Die ersten Höker und Bauersfrauen suchten sich auf dem langgezogenen Platz eine gute Stelle, um frische Kräuter, Eier, Käse und sonstige Waren feilzubieten. In den Laubengängen des Rathauses öffneten die Krämerbuden, die Brot- und Fleischbänke wurden aufgestellt. An den Garküchen drängten sich die ersten Hungrigen, um eine Schale Suppe oder Gesottenes zu erstehen. Rasch breitete sich der fettige Geruch über den Platz aus.
    Mathilda schaute an den Hausfassaden entlang. Kaum unterschieden sie sich von denen aus Königsberg und anderen Städten des ehemaligen Ordenslandes. Ohnehin bewiesen die Erbauer der letzten ein-, zweihundert Jahre wenig Einfallsreichtum. Vielleicht lag es daran, dass sie wie Dora, Doras Bruder und Vater sowie Veit Singeknecht und all die anderen Baumeister immer wieder dieselben Werkmeisterbücher studierten, dieselben Bauwerke bewunderten und stets danach trachteten, dieselben Meisterleistungen der Vergangenheit in künftige Zeiten hinüberzuretten. Auf einmal fühlte sie sich erschöpft von den vielen roten Backsteinen, den daraus emporragenden Wimpergen, den figurengeschmückten Stufengiebeln und den obenauf in der Sonne blitzenden Wetterfahnen, die gelegentlich von einem Neptun oder Ritter ersetzt wurden.
    Von Norden her schob sich der gewaltige Dom, der nahtlos in die nicht weniger gewaltige Bischofsburg überging, aufdringlich in die Stadt. Zwar lag noch eine Senke dazwischen, dennoch beherrschte der Bau seine nächste Umgebung. Seit einigen Jahren war man dabei, die einst für den Deutschen Orden so wichtige Vorburg abzutragen und die Steine für den Bau weiterer Bürgerhäuser wegzutransportieren.
    Mathildas Augen blieben an den Zinnen der Domkirche hängen. Die weiße Wolke darüber ähnelte stark den Umrissen der Wirtshausmagd. Deutlich erinnerte sie den müden Blick, den zahnlosen Mund und den krumm geschufteten Rücken. Trotz allem aber blitzten auch in diesem Wolkengespinst die besseren Tage durch, die die Frau einst gekannt hatte. Voller Entsetzen begriff Mathilda die abermalige Warnung. So neblig weit entfernt das Schicksal jener Magd dort oben am blauen Morgenhimmel für sie derzeit noch sein mochte, rasch konnte das Wetter umschlagen und die dunklen Wolken zu ihr herüberwehen, sie einhüllen und ihre beste Zeit für immer auslöschen. Dem durfte sie nicht tatenlos zusehen, sonst würden andere auftauchen und die Reste ihres Daseins rücksichtslos als Steinbruch für den Bau ihrer eigenen Zukunft ausweiden, wie das gerade mit der früheren Ordensburg geschah. Sie nestelte an dem hochgeschlossenen Kragen ihres schwarzen Trauerkleides, zupfte den Goller zurecht und tastete prüfend nach dem Lederbeutel am Gürtel. Beruhigt, alles Wichtige bei sich zu wissen, lief sie los, zunächst vermeintlich ziellos, bis sie gewahrte, dass sie längst geradewegs auf die Domkirche zusteuerte.
    Die Straße fiel leicht nach Norden hin ab, bis sie sich auf einen Vorplatz öffnete, der von weiteren schmucken Kaufmannshäusern gesäumt wurde. Mathilda genoss den freien Blick auf Dom und Bischofsburg mit ihren beiden quadratischen Ecktürmen und dem über mehrere Geschosse reichenden Portal. Der hohe Turm der Kirche überragte alles.
    »Ihr weilt wohl zum ersten Mal in Marienwerder?« Ein Fremder stand plötzlich neben ihr und sprach sie an.
    »Was

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