Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
der Flamme.
Doras Blick schweifte umher, ihre Nase sog den aufdringlichen Weihrauchgeruch ein, sie musterte die in den Bänken Knienden, die inständig einen Heiligen um Hilfe anflehten. Dass sie sich hier befand, diese Gedanken dachte, diese Bewunderung großartiger Kunst durchlebte, war kein Zufall. Auch auf diesen Weg hatte das blaue Öl der Schafgarbe sie geleitet, auch das gehörte dazu, um zum Kern des eigenen Wesens vorzudringen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die zauberhafte weibliche Gestalt vor Augen, die sich in den Linien der Hand abzeichnete, roch den würzigen Krautgeruch der Schafgarbe. Hätte sie ihre Heimatstadt Königsberg nicht verlassen, hätte sie niemals eine katholische Kirche wie die Marienkirche betreten und wäre demzufolge niemals mit dieser Form der Kunst in Berührung gekommen. Hätte sie sich also nicht auf den Weg gemacht, um Urbans Vergangenheit zu erkunden und Veit von dem schrecklichen Verdacht zu befreien, schuld an seinem Tod zu sein, wäre ihr niemals klargeworden, wozu wahre Leidenschaft befähigte.
Als sie die Augen wieder öffnete, meinte sie von neuem in der Bildgewalt des Altars zu versinken. Aus jedem kleinsten Winkel sprach ihr eine Zuversicht entgegen, die sie durstig aufsaugte. Veit Stoß schien untrennbar mit dem katholischen Glauben verbunden. Aus deren Lehren hatte er die Gestalten entwickelt, die den Altar bevölkerten. Um derart anrührend davon zu erzählen, musste er das Leben Mariens und Christi zutiefst verehrt haben. Dora dachte an Urban. Streng hätte ihr Gemahl bei diesen Überlegungen die Stirn gerunzelt, sie mit seinen hellen, weisen Augen lange schweigend angesehen. Geduldig hätte er ihr alsdann auseinandergesetzt, dass Veit Stoß sicherlich von Luthers Lehre überzeugt gewesen wäre, hätte er ein Menschenalter später gelebt. So klug, wie er gewesen war, war das gar nicht anders denkbar.
Seltsamerweise erfüllte sie diese Einsicht mit großem Bedauern. Sie war überzeugt, das Lutherische hätte ihn nicht zu jenen großartigen Werken anregen können. Etwas Entscheidendes hätte darin gefehlt. Vermutlich genau das, was den Figuren den entscheidenden Atem einhauchte – jene verschwenderische Üppigkeit, die keinen Gedanken an Nützlichkeit vergab. Die Baukunst im Herzogtum war nüchtern und pragmatisch, ganz zweckgerichtet und deshalb auf das Wesentliche beschränkt. Überbordende Leidenschaft, die sich in der Ausgestaltung noch des kleinsten schmückenden Beiwerks allein zur Freude des betrachtenden Auges zeigte, war ihr fremd. Andererseits waren die Ordensritter ebenfalls katholisch gewesen, musste Dora eingestehen. Trotzdem aber hatte es ihnen an jener überschwenglichen Sinnesfreude gemangelt, sonst hätten sie die Ordensburgen und Bauten anders gestalten lassen. Oder war es ihr Auftrag, das dünnbesiedelte Land im Nordosten Europas von den rauhen Prußen zu erobern, der ihnen auf lange Zeit jedwede Sinnesfreude geraubt hatte und sie stets nur das Nützliche, Vernünftige hatte errichten lassen? Darauf wusste sich Dora keine Antwort. Wie wollte sie das eines Tages Johanna erklären?
Ein Schnaufen dicht neben ihr riss sie aus ihren Überlegungen. Unter heftigem Ächzen und Stöhnen kniete sich ein altes Weib auf der Bank nieder, faltete die von harter Arbeit geschundenen Hände und richtete das vom Leben zerfurchte Antlitz flehentlich nach oben. In den grauen Augen gewahrte Dora einen seligen Ausdruck, der sie rührte. Gewiss wusste die Frau weder etwas von den Kreuzrittern noch von Luther oder sonstigen Lehren, geschweige denn von katholischen Sinnesfreuden oder Ähnlichem. Auf ihrem Gesicht stand allein das tiefe Vertrauen in überirdische Mächte, die sie im Anblick von Veit Stoß’ Kunstwerk zu erreichen hoffte. Dora beneidete sie darum. Zugleich brannte sie darauf, das gerade Erfahrene mit jemand Gleichgesinntem zu besprechen. Sie tastete in dem Felleisen nach Veits Brief, den Gret ihr überlassen hatte. Darin hatte er als seinen derzeitigen Aufenthaltsort ein Haus in der Krakauer Kanonikergasse erwähnt. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen.
Ihr pochte das Herz bis zum Hals, als sie die andächtige Stille der Marienkirche hinter sich ließ und auf den weitläufigen Großen Marktplatz hinaustrat. Auf dem Signalturm blies der Turmbläser in sein Horn. Für einen kurzen Moment schien das geschäftige Treiben in den Tuchhallen und den benachbarten Krämerbuden stillzustehen. Dann ging es mit dem Feilschen und Handeln ebenso munter
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