Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
meinte, wie es klang.
»Besuch?«, entgegnete sie ungläubig, wenn sie auch wenig Hoffnung hatte, eine genauere Erklärung zu erhalten. Stattdessen winkte er sie in den dunklen Flur hinaus. Froh, eine Weile der engen Kammer zu entrinnen, beeilte sie sich, ihm zu folgen. Über eine steile, enge Stiege gelangten sie ins Erdgeschoss, das aus einem einzigen, ebenfalls sehr spärlich eingerichteten Wohnraum bestand. Sonnenlicht flutete durch eine schmale offenstehende Tür und ein direkt daneben befindliches Fenster in den Raum. Dora freute sich, die stumme Alte in einer Ecke vor dem Herdfeuer zu entdecken. Gedankenverloren rührte sie in einem Kessel und blickte kaum auf, als sie an ihr vorbei nach draußen gingen.
Vor dem Haus öffnete sich eine Art Dorfplatz, um den sich ein halbes Dutzend ähnlich gebauter eingeschossiger Hütten mit schlichten Strohdächern gruppierte. In der Mitte erhob sich eine Kapelle aus hellem Bruchstein, die nur wenig höher als die übrigen Gebäude war. Das gesamte Gelände befand sich in schräger Hanglage, was die Größenverhältnisse noch weiter verschob. In einer halboffenen Schmiede hämmerte ein riesiger Mann ein glühendes Eisen auf dem Amboss, davor hielt ein Junge mit aller Kraft ein aufgeregt tänzelndes Pferd an einem Seil fest. Mehrere Frauen hockten auf Baumstümpfen beieinander und rupften Gänse, Kinder scheuchten eine Handvoll aufgeregt gackernder Hühner mitsamt ihrem stolzen Hahn durch die Gassen.
Fasziniert bestaunte Dora das Treiben, das eher an das beschauliche Leben in einem Dorf denn an das Dasein auf einer mächtigen Burganlage erinnerte. Im Nordosten schälten sich die Mauern des Schlosses heraus, im Westen die Kuppeln und Türme der Kathedrale. Aus den verschachtelten Anbauten blinkte golden die achteckige Kuppel der Sigismundkapelle auf, deren Florentiner Baumeister vor wenigen Jahren ein so grausiges Ende gefunden hatte. An den uneinheitlichen Kirchenbau schloss sich eine Vielzahl weiterer großer Backsteingebäude an, darunter auch das Marstallgebäude. Ein Teil des trutzigen Befestigungswalls um den Burgberg war zwischen den Mauern erkennbar. In jedem Winkel lungerten Söldner und Wachleute herum. Ihre Piken wie die gusseisernen Kanonen, auf die sie sich stützten, erinnerten Dora daran, wo sie sich befand – auf einer der mächtigsten Festungsanlagen Europas. Über die Schulter schaute sie zu ihrer Hütte, gewahrte den zweiten Wachmann gleich neben der Tür. Eine Flucht wäre sinnlos. Die Soldaten würden sich einen Spaß daraus machen, sie über den Burgberg zu jagen, um sie am Ende in einer der dunkelsten Ecken zu fassen zu kriegen.
»Da vorn!« Der erste Wachmann berührte sie sanft am Arm, deutete auf eine Ecke unweit der kleinen Kapelle schräg gegenüber des Hauses. Hin- und hergerissen, ob sie eher auf das Auftauchen eines königlichen Richters oder wenigstens Baranamis hoffen oder besser von einem neuerlichen Erscheinen des Priesters Clas Tönnies ausgehen sollte, spähte sie hinüber. Die Gestalt, die sie dort entdeckte, überraschte sie – Mathilda!
6
D as unerwartete Auftauchen der Base verwirrte Dora. »Ihr?«, krächzte sie heiser und ging zögernd auf sie zu. Der Wachmann folgte ihr in gebührendem Abstand, aber immer noch nah genug, sie im Falle eines Falles gleich packen und zu Boden werfen zu können. Kurz vor Erreichen des Zieles blieb sie stehen und krallte ihre Finger in die Falten des grünen Rockes.
»Dora, meine Liebe«, flötete Mathilda, als stünden sie einander nach längerer Trennung nicht gut bewacht im Vorhof des polnischen Königsschlosses, sondern in einer gepflegten Wohnstube oder einem Wirtshaus gegenüber. An ihrem Zögern, auf sie zuzugehen, las Dora dennoch deutlich den Widerwillen ab, den die besonderen Umstände ihr bereiteten. Sie konnte es ihr schlecht verdenken, ahnte sie doch nur zu gut, wie es sein musste, einer vermeintlichen Mörderin und Hexe gegenüberzustehen. Wenigstens war sie nicht mehr so zerlumpt und dreckig wie nach den zwei Wochen im Ratsgefängnis. Damals hatten die Läuse in ihrem Haar fröhliche Feste gefeiert, und in ihren Gewändern hatte nicht nur der Gestank des Krakauer Stadtgefängnisses sowie all seiner unzähligen Bewohner gehangen, sondern auch der Geruch eines Körpers, der nach dem Bad in einem Zuber mit Rosen- und Veilchenwasser dürstete, als wäre das das allein seligmachende Paradies. Noch bei der Erinnerung wurde Dora verlegen. Was mochten Clas Tönnies und Feliks Baranami
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