Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Süden der eigentlichen Schlossanlage. Die Kammer maß knapp vier Ellen in der Länge und etwa zweieinhalb Ellen in der Breite. Die Schräge an der linken Längswand sorgte dafür, dass Dora nur auf einer Breite von etwa einer Elle aufrecht stehen und umhergehen konnte. So klein und karg die Kammer war, im Vergleich zu ihrer vorherigen Unterkunft stellte sie eine wahrhaft königliche Bleibe dar. Selbst die drückende Augusthitze ließ sich darin gut aushalten. Statt auf einem Strohsack schlief Dora in einem richtigen Bett und deckte sich des Nachts mit einem verschlissenen, aber sauberen Leinentuch zu. Außerdem hatte sie einen Schemel und einen Tisch vor dem Fenster stehen. Der Blick hinaus reichte zwar nicht weiter als bis zur wenige Schritte entfernten Mauer, darüber schälte sich morgens jedoch der lang vermisste Himmel in verschwenderisch schönem Blaurot heraus. Endlich konnte sie das Vergehen der Tage wieder verfolgen und ein Gefühl für das Verrinnen der Zeit entwickeln.
Ob sie die zuvorkommende Behandlung Baranamis undurchschaubarer Fürsprache zu verdanken hatte? Je öfter sie an den Kaufmann dachte, je eigenartiger erschien er ihr, und umso fragwürdiger kam ihr sein Eintreten für sie beim König vor. Warum um alles in der Welt hatte er das getan, war er doch derjenige, der den Gerichtsvogt erst auf ihre vermeintlich teuflischen Augen aufmerksam gemacht hatte? Der Vorwurf, schuld an Urbans Tod zu sein, ließe sich weitaus einfacher entkräften als der der Hexerei. Andererseits entbehrte es nicht einer gewissen Verrücktheit, dass ausgerechnet Baranami sie ihrer verschiedenfarbigen Augen wegen als vom Teufel besessen erklärte. Dabei könnte er es dank seiner leuchtend roten Haupt- und Barthaare sowie seines Hinkefußes selbst am besten mit dem Höllenfürsten aufnehmen! Fehlte nur noch, dass er auch grüne Augen hatte. Dessen war sie leider nicht mehr sicher. Welche Rolle aber spielte das? Mit dem Hinweis, der König könne ob seiner Offenheit in Fragen der Religion und seinem lutherischen Neffen zuliebe ein öffentliches Verbrennen auf dem Markt nicht erlauben, hatte er Wierzynek zumindest vorerst mundtot gemacht. Seither genoss sie die angenehmen Haftbedingungen im Königsschloss. Ob in Wahrheit gar Veit und sein Vater dahintersteckten? Immerhin waren auch sie Baranamis Freunde. Möglicherweise hatte er sie über ihr Schicksal informiert, weil er im Gegensatz zu Gottlieb wusste, wohin sie geflohen waren. Bei diesem Gedanken wurde ihr warm ums Herz. Schon malte sie sich aus, wie Veit und sein Vater nach Krakau zurückkehrten, um sie zu retten. Bis dahin würden Baranami und sein jüdischer Freund Gottlieb alles daransetzen, dass sie auf dem Wawel vor dem rachsüchtigen Göllner und seinem willfährigen Handlanger Wierzynek verschont blieb. Der Traum war zu schön. Die bittere Wahrheit, dass Veit bei seiner Rückkehr nach Krakau ihretwegen selbst Gefahr lief, des gemeinen Mordes an Urban bezichtigt zu werden, verdrängte sie lieber.
Unruhig lief sie einige Schritte auf dem schmalen Raum zwischen Bett, Schemel, Tisch und Wand hin und her, rieb sich über die Arme. Sie genoss es, dabei den weichen Stoff ihres hellgrünen Gollers unter den Fingerspitzen zu spüren. Auf wundersame Weise hatten sowohl eine Garnitur frische Kleidung wie auch eine saubere Haube sowie das Felleisen mitsamt ihrem Notizbuch und Schreibzeug Eingang in die Kammer gefunden. Damit befanden sich nahezu ihre gesamten Habseligkeiten, die sie bei ihrer Verhaftung im Wirtshaus in der Floriansgasse zurückgelassen hatte, wieder in ihrem Besitz. Ausgerechnet das kostbare Werkmeisterbuch von Ahn Laurenz Selege und Veits Brief an Jörg, den Gret ihr für die Reise überlassen hatte, aber fehlten. Dora hoffte, die Base hatte beides an sich genommen, um es vor dem Zugriff fremder Hände zu bewahren.
Gedankenverloren wickelte sie sich eine Haarsträhne um die Finger. Das saubere, entlauste Haar bereitete ihr ebenfalls ein Wohlgefühl. Gleich nach der Ankunft auf dem Wawel vor gut zehn Tagen hatte sie ein ausgiebiges Bad nehmen dürfen. Seither fühlte sie sich wieder mehr wie ein echter Mensch. Dazu trug auch die regelmäßige Verpflegung bei, die ihr vormittags und zur Vesper in Form einer dicken Käsesuppe, einer ordentlichen Scheibe Brot sowie einer Kanne angenehm würzig schmeckenden Bieres von einem zahnlosen Weib gebracht wurde. Mehrfach hatte sie versucht mit der Alten zu reden. Entweder war sie des Deutschen nicht mächtig oder
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