Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
riet der Jemand, der sie gegen die Hauswand gezogen hatte. »Oder seid Ihr Eures Lebens überdrüssig? Das wäre sehr schade.«
Verwundert betrachtete Gret ihren Retter. Es war ein nachlässig gekleideter Mann, ein oder zwei Handbreit kleiner als sie, allerdings gut zwanzig Jahre älter und ziemlich wohlbeleibt. Unter einem federngeschmückten Hut mit einer auffällig breiten, löchrigen Krempe blickten ihr zwei fröhliche Augen aus einem bartlosen Gesicht entgegen. Nahtlos ging das Antlitz in den kurzen, dicken Hals und die nicht weniger dicken Schultern über. Der pelzverbrämte Kragen seiner Schaube fand kaum Gelegenheit, sich zwischen die massigen Hautwülste zu schmiegen. So fielen die kahlen Stellen des Pelzes und der schäbige Zustand des Mantels umso stärker ins Gewicht. Verlegen senkte Gret den Blick. Dabei gewahrte sie die mehrfach gestopfte Strumpfhose an den stämmigen Beinen sowie die reichlich abgestoßenen Kuhmaulschuhe.
»Erlaubt, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Felix König, aber alle nennen mich Polyphemus, den Bibliothekar.« Schwungvoll riss er den Hut vom Kopf, entblößte einen halbkahlen Schädel und verneigte sich vor ihr. Zumindest versuchte er es, denn obwohl das Fuhrwerk die schmale Durchfahrt längst passiert hatte, blieb es weiterhin eng in der Gasse. Dicht an dicht drängten sich Menschen, Karren und Tiere den Weg zum Schloss hinauf. »Anders als mein Name verheißt, bin ich weder ein menschenfressender Riese noch ein einäugiger Zyklop. Auch darf ich mich glücklich schätzen, dass meine Liebe freudig von meiner Gemahlin erwidert wird. Ihr müsst Euch also nicht vor mir fürchten, ich bin lediglich ein harmloser alter Bücherwurm. Gestattet, dass ich Euch ein Stück des Wegs begleite. Mir scheint, Ihr wollt zum Schloss und seid Euch der Gefahren, die dieser Anstieg hier bietet, noch nicht so recht bewusst.«
»So sieht es aus.« Gret erwiderte sein vergnügtes Lächeln. »Mein Name ist Gret Selege. Ich bin die Frau des Baumeisters Jörg Selege. Seit wenigen Tagen erst lebe ich in der Stadt.«
»Und seid trotzdem schon ganz allein unterwegs«, ergänzte Polyphemus mit einem belustigten Augenzwinkern. »Sehr mutig von Euch, Euch gleich aus dem übersichtlichen Kneiphof in die Altstadt zu wagen.«
Sie erschrak. Da er wusste, dass sie aus dem Kneiphof kam, kannte er die Seleges also. Ehe sie sich recht besinnen konnte, nahm er sie beim Arm und zog sie weiter.
Der Anstieg machte ihn kurzatmig. Seine Worte kamen stoßartig aus seinem Mund. Das hinderte ihn trotzdem nicht, weiterzureden. »Der junge Selege ist also wieder zurück in der Stadt. Schön zu hören. Er hat sich reichlich Zeit gelassen. Die anderen Kunstdiener von Christoff Römer sind schon im letzten Herbst wieder hier am Pregel eingetroffen. Anscheinend hat der gute Selege also in der früheren Heimat unseres Herzogs viel Neues gelernt. In jedem Fall hat er dort eine so wunderschöne Frau wie Euch getroffen. Ihr stammt doch wohl aus Nürnberg? Eure Art zu sprechen ist einfach unverkennbar.«
»Ja, natürlich«, erwiderte sie und raffte den Rock, um einem Haufen Dreck auszuweichen, der mitten auf dem Weg prangte. Die Gasse war zwar als Schlossauffahrt ordentlich gepflastert, allerdings nicht in der sonst für große Straßen üblichen Weise. Dazu war es zu eng. Ebenso schmal war auch die Breite der Parzellen. Dicht und unübersichtlich wie die Hühner auf der Stange schmiegten sich die Häuser aneinander. Obwohl ausnahmslos aus Stein gemauert, schienen sie kaum gerade Wände zu besitzen. Das Krumme machte der Fassaden- und Giebelschmuck mehr als wett. Selbst im Erdgeschoss gewährten bereits vollständig bleiverglaste Fenster Einblick in das reich ausgestattete Innere. Die Eingänge waren von Säulen flankiert. Welch Jammer, diesen Reichtum nicht im strahlenden Sonnenlicht bewundern zu können.
»Sehr beeindruckend, nicht wahr?« Polyphemus schob seinen Bauch stolz heraus und strahlte Gret an. »Nürnberg gilt zu Recht als eine der reichsten und schönsten Städte im Heiligen Römischen Reich. Allerdings muss sich Königsberg daneben kaum verstecken. Es mag kleiner und weniger berühmt sein, dafür kommt ihm im Handel mit dem hohen Norden eine wichtige Rolle zu. Herzog Albrecht tut das Seine, damit auch die Wissenschaften und die Künste an Bedeutung gewinnen. Seine frühere fränkische Heimat wie auch Nürnberg dienen ihm als Vorbild, die reich sprudelnden Einnahmen der Kaufleute liefern ihm die Mittel dazu. Trotz
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