Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
begreift mehr. So habe ich dem Orden den Rücken gekehrt, was ich bis heute nicht bereue. Seither bin ich viel herumgekommen, war einige Zeit bei dem berühmten Drucker Johann Froben in Basel, anschließend bei Erzherzog Ferdinand von Österreich, der zu jener Zeit zum König von Böhmen, Kroatien und Ungarn gekrönt wurde, sowie am Hofe des sächsischen Kurfürsten in Dresden. Zuletzt bin ich einige Jahre in Nürnberg ansässig gewesen, was mich dann schließlich nach Königsberg, an den Hof Herzog Albrechts, geführt hat. Meine gelehrten Freunde in Franken haben mir übrigens zu meinem Namen verholfen. In Anspielung auf meine Wissbegier haben sie mich nach dem griechischen Zyklopen Polyphem benannt. Der Unterschied ist nur, dass ich keine Menschen, sondern das Wissen in Büchern in mich hineinfresse. Daran hat sich wenig geändert, seit ich vor zehn Jahren an den Hof Herzog Albrechts gekommen bin. Inzwischen habe ich hier nicht nur eine neue Heimat, sondern auch meine über alles geliebte Frau Katharina gefunden. Sie steht übrigens als Bleicherin und Spitzenwäscherin im Dienste der Herzogin und leitet deren Nähschule für junge Mädchen.«
»Oh«, entschlüpfte es Gret beeindruckt. Unauffällig beäugte sie ihren Begleiter noch einmal von der Seite. Seine Kleidung hatte nicht darauf hingedeutet, einen solch einflussreichen Mann des herzoglichen Hofs vor sich zu haben, der zuvor sogar schon in Sachsen und Wien mit den höchsten Herrschaften zu tun gehabt hatte. Sich schlicht, wenn nicht gar ein wenig schäbig zu kleiden war wohl ein Relikt seiner Jahre bei den Kartäusern. Wahrscheinlich gab er nicht das Geringste auf sein Äußeres, sondern lebte allein für seine Wissenschaft.
»Es wäre mir eine Freude, Euch einmal zu Gefallen zu sein, meine Liebe. Zwar steht Euer Schwager als Kammerrat fest in Diensten des Herzogs, doch schadet es nie, noch einen zweiten Zugang zum erlauchten Kreis zu besitzen. Wendet Euch also jederzeit gern vertrauensvoll an mich.«
Wieder zwinkerte er ihr verschwörerisch zu. Schon erreichten sie ein weiteres Tor, hinter dem sich ein Badehaus befand. Das Gedränge vor dem mehrgeschossigen Haus auf der rechten Seite enthob Gret vorerst der Notwendigkeit, auf Polyphemus’ Äußerung einzugehen. Eine Weile war er mit dem Grüßen in sämtliche Richtungen beschäftigt. Erleichtert wandte sie sich um. Linker Hand hatte ein zunächst unübersichtlich scheinendes Gewirr aus Backsteinmauern die Reihe der schlanken, himmelwärts strebenden Bürgerhäuser abgelöst. Die Morgensonne tanzte über die bleigedeckten Dächer, malte übermütig Wolkenschattenbilder auf die roten Steine, ließ Fensterscheiben golden funkeln. Schließlich wagte sie sich weiter in die Gasse hinein, kitzelte die Krone der brusthohen Grabenmauer mit ihren Strahlen wach.
»Wollt Ihr die fetten Schweine im Schlossgraben bewundern?« Das feiste Gesicht des Bibliothekars strahlte. »Ihr glaubt nicht, welche Vorteile ein solches Plätzchen für die Tiere hat. Da das Schloss mitten in der Stadt liegt, muss der Herzog gar nicht erst die Fütterung seiner Schweine verfügen. Ganz von selbst werfen die Bürger aus den umliegenden Häusern ihre Abfälle hinunter. Da ihnen das Halten von Schweinen verboten ist, wissen sie nicht, wohin sonst mit den Resten ihrer gut gefüllten Küchen. Seht Euch nur an, wie die Menschen hier leben, dann könnt Ihr abschätzen, welchen Speck die Schweine auf den Rippen haben. Und natürlich auch diejenigen, die an der Tafel des Herzogs sitzen und nahezu jeden Tag eines der fett gemästeten Schweine vor sich auf dem Teller haben.«
Vergnügt klopfte er sich auf den Wanst. Gret war froh, im selben Moment wieder einen Wagen passieren lassen zu müssen. Dieses Mal fuhr er von oben den Berg herunter. Polyphemus sah ihrem verwunderten Blick an, was sie dachte.
»Natürlich ist die Gasse zu eng, um zwei entgegenkommende Fuhrwerke aneinander vorbeizulassen. Deshalb möchte ich jetzt nicht Fuhrmann sein und meinen Wagen gerade erst unten durch das enge Schmiedetor bugsiert haben. Aber vielleicht hat der Bursche hier Glück und schafft es, bevor ein anderer den Berg hinaufwill.«
Er winkte dem Fuhrmann zu, dann schob er Gret weiter den Berg hinauf. Nach einem dritten Tor endete auch rechts die Reihe der Bürgerhäuser, und die Sonne schaffte es endlich, den gepflasterten Grund zu erreichen und zu trocknen.
»Da seht Ihr schon den Marstall. Unzählige Pferde, mehrere Dutzend Wagen der verschiedensten Größe
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