Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
allem aber bleibt den Bürgern noch ausreichend Geld, ihre wundervollen Häuser immer weiter auszugestalten. Den Grundstein dazu haben sie sich übrigens im wahrsten Wortsinn vor gut einhundert Jahren beim Sturm auf die damalige Ordensburg gelegt.«
»Wie meint Ihr das?«
»Das ist eine lange Geschichte. Lasst sie mich kurz erzählen. Damals führte ein Großteil der preußischen Städte Krieg gegen den Deutschen Orden. Der Hochmeister meinte das immer größer werdende Loch in seinem Geldsäckel mit Hilfe immer neuer Akzisen stopfen zu können. Das aber wollten sich die Stände und Städte nicht mehr gefallen lassen. Eines Tages kam es zum offenen Kampf. Wutentbrannt stürmten die Bürger die Ordensburgen. Dieser Ausfall war so überraschend, dass den einst so tapferen Kreuzherren nichts anderes übrigblieb, als schnell ihre Pferde zu satteln und das Weite zu suchen oder aber sich den wütenden Aufständischen kampflos zu ergeben und kläglich um Gnade zu winseln.« Polyphemus blieb stehen, reckte den Zeigefinger in die Luft. Sie zog die Augenbraue nach oben, woraufhin er abermals wissend lächelte, bevor er fortfuhr: »Den Bürgern ging es natürlich keinesfalls ums Morden und Drangsalieren. Den braven Rittern haben sie auch nichts zuleide getan. Stattdessen haben sie die Mauern und Türme der Burgen niedergerissen und die Steine zum Ausbau ihrer Häuser verwendet. Einer der meistbeschäftigten Baumeister jener Jahre hieß übrigens Laurenz Selege. Das ist der Urahn Eures verehrten Herrn Gemahls. Sowohl bei den reichen Königsbergern als auch bei den bald wieder in Macht und Würde stehenden Deutschordensleuten erwarb er sich große Verdienste. Binnen weniger Jahre ist von Leuten wie ihm die Burg hier in Königsberg noch eindrucksvoller als ehedem wieder aufgebaut worden. Ebenso sind zu beiden Seiten des Pregels die stolzesten Kaufmannshäuser entstanden. Falls Ihr mehr darüber erfahren wollt, wie Euer Ahn dabei vorgegangen ist, solltet Ihr Euch das aufschlussreiche Werkmeisterbuch aus seiner Feder zu Gemüte führen. Soweit ich weiß, ist es mit der Heirat Eurer Schwägerin Dora in den Besitz Eures Schwagers übergegangen. Der ehrwürdige Kammerrat Urban Stöckel wird es Euch gewiss gern einmal zeigen. Doch zurück zu Euch, meine Liebe.« Wieder hielt er inne, schöpfte nach Luft und betupfte sich mit einem Tuch die schweißnasse Stirn. Neugierig musterte er sie von der Seite. »Darf ich fragen, aus welcher Nürnberger Familie Ihr gebürtig seid? Ihr habt es noch gar nicht erwähnt. Oder habe ich das vorhin überhört?«
»Ihr kennt Euch in Nürnberg aus?«, gab Gret zurück, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Ihr Herz klopfte heftig. »Dabei klingt Eure Sprache, als kämt Ihr aus dem Norden. Lasst mich raten, aus den Niederlanden vielleicht?«
Sie rang sich ein gewinnendes Lächeln ab und schob sich wieder näher an ihn heran. Dabei roch sie den typischen Altmännergeruch nach zu viel Veilchenöl, Schweiß und saurem Atem. Hinzu kam eine Erinnerung an Staub. Das mochte an seiner Beschäftigung liegen. Der tägliche Umgang mit den schweren Folianten und den in Leder gebundenen Drucken hinterließ seine Spuren. Unauffällig spähte sie auf seine Hände. An Daumen und Zeigefinger der Rechten entdeckte sie dunkle Verfärbungen. Die mussten von der Tinte stammen, die beim Umblättern der Seiten mit den angefeuchteten Fingern an der Haut haften blieb. Ihr schauderte bei der Vorstellung, wie er mit seinen breiten Lippen die Finger leckte.
»Mit den Niederlanden liegt Ihr richtig.« Erfreut über ihren Scharfsinn, schickte er sich an, weiterzugehen. »Man merkt eben, dass Ihr aus einer wichtigen Kaufmannsstadt stammt. Das hat Euer Ohr für die leichten Unterschiede im Sprechen geschult. In Nürnberg treiben viele meiner Landsleute Handel. Auch ich habe dort einige Zeit gelebt und kenne mich dank meines regen Briefwechsels gut in der Bürgerschaft aus.« Abermals erschrak Gret. Polyphemus war jedoch so von seinen Ausführungen eingenommen, dass er das nicht bemerkte. »Meine Geburtsstadt ist Gent. Das Schicksal hat mich schon in jungen Jahren von dort weggeführt. Zunächst gehörte ich dem Orden der Kartäuser an. Die Brüder ließen mich meine Bücherstudien betreiben und mein Wissen über die Schriften vervollkommnen. Luther und die Reformation haben mir dann jedoch die Augen über den Glauben und die falsche Lehre der katholischen Kirche geöffnet. Wer viel liest, lernt eben auch viel, und wer viel lernt,
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