Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
ging. Ich hätte Euch nicht erkannt. Welch wunderbarer Zufall, Euch hier in Königsberg wiederzutreffen. Es ist mir eine große Freude.« Tief verbeugte er sich vor ihr.
Gret atmete erleichtert auf. Dass ihn gute Erinnerungen mit ihrem Oheim und seinem Gasthaus verbanden, rührte sie. Zugleich beruhigte sie die Tatsache, dass er ihre Heimatstadt rechtzeitig verlassen und somit die zweite Frau ihres Oheims nicht mehr kennengelernt hatte.
Mit seiner schäbigen Kleidung, dem gewaltigen Bauch und vor allem dem Hang zur Geschwätzigkeit war Polyphemus eigentlich eine sehr eindrucksvolle Erscheinung. Warum erinnerte sie sich nicht an ihn? Von klein auf hatte sie gelernt, sich jedes Gesicht, jeden Namen und vor allem sämtliche Wünsche und Eigenheiten der Gäste in der Wirtsstube einzuprägen. Es hätte Maulschellen gehagelt, wenn sie dem alten Huttenbeck das Rotbier des Wolfgrabers vorgesetzt oder den Meister Sachs mit dem falschen Namen angesprochen hätte. Warum nur war ihr Polyphemus, oder wie auch immer er sich damals genannt hatte, nicht im Gedächtnis geblieben?
»Komm schon.« Lienhart zupfte sie am Ärmel. »Wir sollten uns beeilen. Der Bibliothekar wird uns helfen, dem Ärger mit Vater zu entgehen. Bringe ich Magister Stein eines der begehrten Bücher aus der herzoglichen Bibliothek, wird er mein Fernbleiben in der Schule verschweigen. Du solltest dir etwas Ähnliches überlegen, um dein langes Wegbleiben zu erklären.«
»Was fällt dir ein?«, brauste Gret von neuem auf. Es war ungeheuerlich, von Jörgs kleinem Bruder geduzt zu werden. Noch dazu erdreistete er sich, sie auf ihr unerlaubt langes Weggehen hinzuweisen. Plötzlich aber rang sie sich ein süßes Lächeln ab. »Also gut, begleiten wir Polyphemus in die Bibliothek. Du hast ja gehört, er kennt meinen geliebten Oheim aus Nürnberg. So war es drei Tage nach meiner Ankunft hier am Pregel allerhöchste Zeit, ihn im Schloss aufzusuchen und ihm die Grüße meiner Familie zu bestellen. Gewiss wird es nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich zu ihm gehe. Alte Erinnerungen aufzufrischen hilft mir, mein Heimweh zu überwinden. Weise deinen Vater bei Gelegenheit darauf hin, sollte er mich einmal suchen und nicht gleich im Haus finden. Es wäre sonst zu schade, wenn er von mir erfahren würde, wie unregelmäßig du in der Schule anzutreffen bist.«
An Lienharts verblüffter Miene las sie ab, wie gut ihre Worte wirkten. Zufrieden zog sie ihn mit sich zum Tor, wo Polyphemus sie an der Schlange der Wartenden vorbei ins Schloss führte.
6
D en ganzen Nachmittag schon war Dora unruhig. Immer wieder trat sie zum Fenster, sah auf den Mühlenberg hinunter. Urbans Verspätung konnte nur eins bedeuten, ihm war etwas zugestoßen. Schwer verletzt lag er irgendwo im Graben, des Pferdes und sämtlichen Besitzes beraubt, der schützende Begleiter erdolcht. Nicht mehr lange, und man würde ihr die schlimme Nachricht überbringen. Fortan würde sie mutterseelenallein sein, konnte weder auf den Beistand ihres Vaters noch auf Jörgs Hilfe hoffen. Das also war die Strafe für ihre sündigen Träume von der Liebe zu einem jüngeren Mann. Tränen traten ihr in die Augen. Kaum ertrug sie es mehr, zu Hause zu sitzen und tatenlos der Nachricht von einem Unglück zu harren, das längst geschehen war. Sie ging zur Stirnwand der Stube und betrachtete den kunstvollen Teppich, der über der prächtigen Eichenholztruhe hing. Auf dem von Blau-, Grün- und Brauntönen beherrschten Webbild riss ein mächtiger Löwe einen großen Hirschen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Dora, aus welchem Zusammenhang dieses Bild stammen mochte. Gedankenverloren strich ihre rechte Hand über die glattpolierte Oberfläche der Truhe, stieß gegen etwas Hartes. Überrascht sah sie hin, entdeckte ein Buch im Oktavformat.
Der braune Ledereinband war fleckig, die abgegriffenen Kanten verrieten die häufige Benutzung. Sie nahm es in die Hand, wickelte die Schnur darum auf und blätterte es durch. Urbans ganz persönliche Aufzeichnungen! Bei seinem frühen Aufbruch letzten Mittwoch musste er vergessen haben, das Buch mitzunehmen. Soweit sie wusste, trug er es sonst stets bei sich. Zumindest hatte er das ihr gegenüber einmal behauptet. Ihr Herz begann zu rasen. Seit Jahr und Tag notierte er die wichtigsten Ereignisse in den Städten Königsbergs sowie im Herzogtum Preußen, ergänzt um seine eigenen Gedanken und Einschätzungen. In den Kreisen um den Herzog war es nach dem Beispiel des vor zehn Jahren
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