Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
verstorbenen Paul Pole Mode geworden, solche Chroniken zu führen. Der ehemalige Ratssekretär der Altstadt, Johannes Beler, hatte das ebenso getan wie sein Amtsnachfolger Caspar Platner. Urban hatte beide gekannt, wie er auch mit Pole zu tun gehabt hatte. Stolz hatte er sich in diese Tradition eingereiht und ihr gelegentlich abends aus seinen Aufzeichnungen vorgelesen.
Unschlüssig strichen ihre Finger über den unebenen Schnitt des Papiers, tasteten genauer, zögerten, sich zwischen zwei Seiten zu schieben und sie aufzuschlagen. Ob er etwas zu letztem Montag notiert, sein rührendes Liebesgeständnis schriftlich festgehalten oder am Ende gar Zweifel an ihrer Lauterkeit aufgeschrieben hatte? Die Versuchung, einfach nachzulesen, wuchs. Heftig pochte es hinter ihrer Stirn. Die Finger bohrten sich in den Schnitt, blätterten zwei dicht beschriebene Seiten auf. Zeile um Zeile füllten die gleichmäßigen Schwünge von Urbans Kanzleischrift aus. Beim Überfliegen des Geschriebenen sprangen Dora einzelne Wendungen wie »erste Begegnung mit der wahren Liebe«, »selige Verzückung«, »unschuldige Liebe«, »bittere Erfahrung« oder »besser verschweigen« entgegen. Erschrocken fuhr sie zusammen. Was tat sie da? Sie spürte die Hitze auf ihren Wangen sich bis zu den Ohren ausdehnen. Rasch schlug sie das Buch zu und legte es wieder zurück auf die Truhe, schob es bis an die Wand. Welch törichte Idee, Urbans persönliche Aufzeichnungen auszuspähen! So etwas tat man nicht. Wenn er ihr daraus einzelne Exempel vorgetragen hatte, war das seine eigene Entscheidung gewesen. Hinter seinem Rücken darin zu lesen kam einem Vertrauensbruch gleich. Um der neuerlichen Versuchung zu widerstehen, stellte sie sich zurück ans Fenster, schaute wieder hinaus und wartete.
Längst hatte sich die Straße geleert, an den umliegenden Häusern waren die Türen und Fensterläden bereits geschlossen. Sogar das Läuten der Vesperglocken an der Altstädter Pfarrkirche war verklungen. Nur mehr vereinzelt liefen Leute über die Straße, eine Handvoll Mägde eilte mit einem Korb voller Brot oder einer Kanne Bier in der Hand vorbei. Dora presste die Nase gegen das kalte Glas. Die letzten Reste der Abendsonne färbten die gegenüberliegende Häuserzeile gelbrot. Die Fenster in den oberen Geschossen spiegelten das verlöschende Sonnenlicht. Laut bellend jagte ein zotteliger Hund eine geschmeidige Katze über die Straße, ein Mann scheuchte die beiden in einen Hauseingang. An seinem umständlichen Gehabe meinte Dora Buchbindermeister Kuhnert zu erkennen. Ehe sie sich sicher sein konnte, verschwand auch er in der Tür. Seltsamerweise handelte es sich um das Haus der Lölhöffels, einer in sämtlichen drei Städten Königsbergs weitverzweigten Familie, die wie die Seleges seit Generationen das Braurecht besaß. Auf einmal war das Klappern von Hufen zu hören. Erwartungsvoll drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der sie es vernahm. Ihr Herz klopfte heftiger.
»Er kommt!«, rief Elßlin durch das ganze Haus. Vor Aufregung überschlug sich ihre Stimme. »Er kommt, er kommt!«
Dora eilte in die Diele. Ein starker Luftzug wehte von unten herauf. Die junge Magd musste die Haustür weit aufgerissen haben. In Doras Rücken fiel die Tür zur Wohnstube krachend ins Schloss.
»Was ist denn los?«, hörte sie Mathilda rufen, als sie an der Küche vorbeilief. Es duftete wunderbar nach frischer Suppe, gebratenem Wildbret und gesottenem Gemüse, Urbans Leibspeise. »Vorsicht, meine Liebe! Ihr könnt Eurem Mann doch nicht kopflos wie ein junges Füllen entgegenspringen. Das schickt sich nicht.«
Dora beachtete sie nicht und stürmte die Treppe hinunter. Auf halbem Weg kam ihr die vierzehnjährige Elßlin entgegen, die Wangen vor Aufregung gerötet, die Augen weit aufgerissen. »Euer Gemahl ist zurück!«
Voller Ungeduld drängte Dora sie beiseite. So schnell wie möglich wollte sie zur Tür und Urban willkommen heißen. Atemlos erreichte sie die Schwelle, sah den Mühlenberg hinunter. In gemächlichem Tempo kamen zwei Reiter die abendlich leere Gasse herauf. Der eine saß auf einem stämmigen Braunen, der andere auf einem Rappen. Die Haltung der beiden war tadellos, ebenso bewies ihre vornehme dunkle Kleidung, dass es sich bei ihnen um zwei hochrangige Vertreter der herzoglichen Kammer handelte. Im Näherkommen zeichneten sich Urbans Umrisse deutlich ab. Über sein schmales Gesicht huschte ein Lächeln. Die blassblauen Augen glänzten im letzten Sonnenlicht. Kurz
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