Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
den Kopf und bedeutete ihr zu schweigen. Sie rückte ein Talglicht auf dem Tisch zurecht, das sie ebenfalls aus der Küche mitgebracht hatte. Der Schein der rußigen Flamme lenkte vom unruhigen Flackern des Feuerhimmels vor den Fenstern ab, verscheuchte auch die sich wild gebärdenden Schatten. Umsichtig legte Mathilda Dora die Decke um die Schultern, reichte ihr den Becher mit dem dampfenden Getränk. Gierig trank Dora, genoss die Wärme, die sich bei jedem Schluck von der Kehle aus in ihrem Körper verbreitete.
Als sie den geleerten Becher absetzte und Mathilda genauer betrachtete, gewahrte sie, wie tief das sonst so gepflegte Antlitz von den Spuren des Brandes gezeichnet war. Ruß und Staub hatten schwarze Rinnsale auf die Wangen gemalt, das helle Haar hing der Base wirr um den Kopf, die Haube fehlte. Mathildas Kleid strotzte vor Schmutz, die Hände waren zerkratzt. Das Schlimmste aber war das Entsetzen, das in ihren grünen Augen stand. Wie blind war sie gewesen, das jetzt erst zu bemerken?
»Wart Ihr drüben am Dom, mitten im Feuer?« Eine böse Ahnung überfiel sie. Kaum brachte sie die nächsten Worte heraus, so sehr fürchtete sie die Antwort. »Was ist mit Vater, Jörg und Lienhart?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Mathilda, um im nächsten Moment völlig erschöpft auf einen Stuhl zu sinken, den Kopf in die Hände zu stützen und so stumm zu verharren.
»Lieber Gott!« Dora schnappte nach Luft, fasste sich an die Kehle, um die sich eine Schlinge zuzuschnüren drohte. »Nimm mir bitte nicht noch meinen Vater und meine Brüder.«
»Wir müssen Ruhe bewahren, dürfen nicht gleich an das Schlimmste denken«, erwachte Mathilda aus der Starre. »Gott hält allzeit seine schützende Hand über uns.«
»Aber …«, wollte Dora widersprechen, doch Mathilda sah sie eindringlich an.
»Wir müssen auf Gott vertrauen. Er wird ihnen beistehen.«
»Wie könnt Ihr …«
»Bis zur Schmiedebrücke bin ich gelaufen«, begann Mathilda leise zu erzählen. »So viele Menschen habe ich kaum je auf einmal in der Stadt gesehen. Die Tore waren viel zu lange geschlossen. Immer dichter haben sich die Altstädter von der einen Seite dagegen gedrängt, mit Eimern, Schaufeln und Leitern bewaffnet, um auf der Dominsel beim Löschen zu helfen. Von der anderen Seite hat man die Kneiphofer klopfen, schreien und jammern gehört. Immer dichter wurden die Rauchwolken, die alles einhüllten. Als der Wind ins Feuer geblasen und es in die Buden und Häuser um den Dom herum getrieben hat, hat es kaum ein Halten mehr gegeben. Endlich ist daraufhin der Befehl ergangen, die Tore zu öffnen. Nur unter Mühen sind die Kneiphofer von der Insel herübergekommen. Zugleich wollten unzählige Altstädter hinüber, um dem Feuer zu Leibe zu rücken. Ich bin mir sicher, sie werden es schaffen, der Flammen Herr zu werden und noch viele Menschen aus der Hölle zu retten.«
»Euer Wort in Gottes Ohr.« Fahrig knetete Dora ihre Hände, sah in die Flamme des Talglichts, bis sie auf einmal wusste, was zu tun war. Sie sprang auf, hastete ins Schlafgemach. In Windeseile schlüpfte sie in Kleid und Schuhe, schnappte sich die Schaube und stürmte die Treppe hinunter.
»Bleibt!« Mathilda begriff erst viel zu spät, was sie vorhatte. Doch Dora öffnete bereits die Tür und stürmte auf den Mühlenberg.
Gespenstische Stille hing über der Gasse. Von den vielen Menschen, die sich vorhin noch ängstlich zusammengedrängt hatten, war keine Spur mehr zu sehen. Erst nahe am Fuß des Berges geriet Dora wieder in den Lärm hinein. Das Feuer auf der Dominsel knisterte unheilvoll, das einstürzende Gebälk und Mauerwerk krachten. Menschen schrien. Der Qualm wurde dichter, Brandgeruch hing über der Stadt. Noch immer brauste das Flammenmeer unerbittlich über den Kneiphof hinweg. Atemlos erreichte sie den Altstädter Markt. Dort sammelten sich die der Feuerhölle Entronnenen. Einige Frauen aus der Altstadt verteilten Decken, andere reichten Krüge mit Bier und Wein, wieder andere trösteten Kinder oder versorgten Verletzte. Zögernd machte Dora einige Schritte in den Platz hinein. Hilfesuchend reckten sich ihr die ersten Arme entgegen, verzweifelte Augen sahen zu ihr auf. »Zu mir, gute Frau!« – »Helft mir!« – »Ich brauche Euch!« – »Nein, ich!« Das Jammern und Wehklagen schien ihr bald lauter als das Prasseln des Feuers und das Donnern der einstürzenden Gebäude auf der nahen Pregelinsel.
Ohne nachzudenken, nahm sie die Schaube von den Schultern,
Weitere Kostenlose Bücher